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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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entgegenwehte: Er übergab sich. Zwar folgte er Gentle, dazu entschlossen, ihn nicht allein diesem Grauen zu überlassen, aber nach einem kurzen Blick hob er die Hände vor die Augen.
    Die Fäulnis reichte bis zum Horizont. Überall verwestes Fleisch, bildete Tümpel und Teiche aus zersetztem Gewebe, Hügel aus Eiter. Während des ersten Besuchs in dieser Welt hatte Gentle kaum den Himmel gesehen, und nun bemerkte er zwei gelbliche Monde zwischen Wolken, die wie Schrammen am Firmament wirkten. Ihr Licht sickerte auf etwas so Widerliches herab, daß hier selbst der hungrigste Kwem-Milan lieber gestorben wäre, als von einer so abstoßenden Masse zu fressen.
    »Dies war die Stadt Gottes, Tick«, sagte Gentle. »Dies war mein Vater, der Unerblickte.«
    In plötzlichem Zorn zerrte er an den Händen seines Begleiters und zog sie von dessen Augen fort.
    »Sieh es dir an, verdammt! Du sollst es dir ansehen! Glaubst du jetzt noch, daß hier Wunder geschehen, ausgerechnet an diesem Ort?«
    Nach der Rückkehr in die Fünfte Domäne suchte Tick Raw mit Gentle nicht das Haus auf, sondern murmelte einige entschuldigende Worte und verschwand in der 130
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    Abenddämmerung. Es sei notwendig für ihn, sich wieder mit Vertrautem zu umgeben und zu versuchen, in der Vierten die Fassung wiederzugewinnen. Er versprach, nicht lange fortzubleiben, und tatsächlich: Schon nach drei Tagen klopfte er erneut an die Tür von Nummer achtundzwanzig und zeigte dort sein noch immer blasses und auch verlegenes Gesicht. Wie er feststellte, war Gentle nicht wieder unter die Bettdecke gekrochen, und auch seine Stimmung hatte sich verändert: Er wirkte nun weitaus dynamischer. Die Matratze, so erklärte der Rekonziliant, gebe ihm nun keine Möglichkeit mehr, Ruhe zu finden. Wenn er sich auf ihr ausstreckte und die Augen schloß, sah er sofort das Chaos in der Ersten, bis zum letzten furchtbaren Detail. Schlafen konnte er nur, wenn er sich vorher so sehr erschöpfte, daß seinem Geist gar keine Zeit blieb, Erinnerungen nachzuhängen.
    Glücklicherweise sorgte Tick für Ablenkungen: Er kam mit einer Gruppe aus acht Vanaeph-Touristen - die er als Ausflügler bezeichnete und die von ihm mit den Riten und Raritäten der Fünften vertraut gemacht werden wollten. Bevor die Tour begann, nutzten sie die gute Gelegenheit, dem Rekonzilianten ihre Aufwartung zu machen. Sie verlasen vorbereitete und ziemlich pathetisch klingende Ansprachen, bevor sie Geschenke hervorholten: geräuchertes Fleisch; Parfüm; ein kleines Bild von Patashoqua, aus Zarziflügeln zusammengefügt; und eine Broschüre mit erotischen Gedichten, verfaßt von Pluthero Quexos Schwester.
    Es war die erste Gruppe von vielen, die Tick Raw während der nächsten Wochen zur Fünften geleitete. Ganz offen gab er zu, daß er mit seiner neuen Tätigkeit eine Menge verdiente: Genießen Sie einen heiligen Tag in Sartoris Stadt - so lautete sein Motto. Je mehr Reisende nach Vanaeph zurückkehrten, um dort begeistert von Aalpastete und Jack the Ripper zu berichten, desto mehr Kunden bekam Tick. Natürlich wußte er, daß dieser Boom nicht lange andauern würde. Es war nur eine 1307

    Frage der Zeit, bis die Reisegesellschaften von Patashoqua ins Geschäft einstiegen, und mit ihren Angeboten konnte er kaum mithalten. Mit einer Ausnahme: Nur er war imstande, persönliche Begegnungen mit dem Maestro Sartori zu arrangieren.
    Gentle begriff, daß sich die Fünfte bald der Tatsache stellen mußte, ein zusammengeführter Teil von Imagica zu sein - ob es ihr gefiel oder nicht. Es mochte leichtfallen, die ersten wenigen Besucher von Vanaeph und Patashoqua zu ignorieren. Aber wenn ihre Verwandten eintrafen, und die Familien der Verwandten, und die Freunde und Bekannten der Familien..., dann waren die Bewohner der Fünften Domäne wohl kaum mehr imstande, ihnen keine Beachtung zu schenken. Gentle stellte sich vor, wie die Gamut Street zu einer Wallfahrtsstraße wurde, mit einem Pilgerverkehr, der in beide Richtungen führte. Dann konnte niemand mehr hoffen, in Nummer achtundzwanzig Ruhe zu finden. Dann blieb dem Rekonzilianten sowie dem und Montag nichts anderes übrig, als sich nach einem neuen Heim umzusehen, während sich das alte Haus in einen Schrein verwandelte.
    Sobald der Morgen jenes Tages dämmerte, mußte Gentle eine Entscheidung treffen. Sollte er in Großbritannien nach einem neuen Sanktuarium Ausschau halten oder sich in einem anderen Land niederlassen, das er während eines früheren Lebens nie besucht

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