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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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das Band der Liebe zwischen ihr und dem Toten hin und bat sie darum, ihm in seinem traumlosen Schlaf Frieden zu gewähren.
    Anschließend wandte sie sich von dem Grab ab und suchte zusammen mit Hoi-Polloi nach dem Nebelportal. In der Vierten war es jetzt heller Tag, und Judith beschloß, dort ein ganz neues Leben zu beginnen, unter einem anderen Namen.
    In dieser Nacht ging es im Haus Nummer achtundzwanzig recht laut zu. Der Grund: eine Feier zu Ehren des Iren, der am Nachmittag aus der Haft entlassen worden war, nach drei Monaten, die er wegen Diebstahl hinter Gittern verbracht hatte.
    Er kam mit Carol, Benedict und einigen gestohlenen Flaschen Whisky zu Besuch, um die wiedererlangte Freiheit zu begrüßen. Inzwischen hatte sich das Haus in eine Schatzkammer verwandelt - die ›Schätze‹ bestanden aus den Geschenken, die Tick Raws Ausflügler dem Rekonzilianten brachten -, und der Ire sowie seine Gefährten fanden großen Gefallen daran, mit diversen Gegenständen herumzuspielen.
    Nach wochenlanger Abstinenz sorgte der Alkohol dafür, daß sich vor Gentles Augen alles drehte, und er lehnte es zunächst ab, ein ernstes Gespräch mit Clem zu führen, obwohl die beiden Schutzengel offenbar großen Wert darauf legten. Als sie ihn immer wieder bedrängten, gab er schließlich nach und folgte Clem in einen ruhigen Teil des Hauses, wo er erfuhr, daß Judith in der Nähe weilte. Diese Nachricht sorgte dafür, daß er wieder nüchtern wurde.
    »Kommt sie hierher?« fragte er.
    »Das bezweifle ich«, erwiderte Clem. Seine Zungenspitze tastete über die Lippen, als kosteten sie dort Judes Geschmack.
    »Aber sie ist sehr nahe.«
    Eine deutlichere Aufforderung war nicht nötig. Montag schloß sich ihm an, als Gentle nach draußen ging; weit und breit war kein lebendes Geschöpf in Sicht. Nur die Geister der Toten schwebten hin und her und warteten noch immer, 1311

    befangen in einem Kummer, der durch die Fröhlichkeit im Haus noch trauriger anmutete.
    »Ich sehe sie nirgends«, stellte Gentle fest und wandte sich an den vor der Tür wartenden Clem. »Bist du ganz sicher, daß Jude in der Nähe ist?«
    »Glaubst du vielleicht, ich könnte sie mit jemand anders verwechseln?« erklang Taylors Stimme. »Natürlich bin ich sicher.«
    »Welche Richtung?« fragte Montag.
    »Vielleicht möchte sie uns nicht sehen«, mahnte Clem.
    »Nun, ich möchte sie sehen«, sagte Gentle. »Sie lehnt es bestimmt nicht ab, ein Gläschen mit mir zu trinken, um der guten alten Zeiten willen. Welche Richtung, Tay?«
    Die Schutzengel streckten die Arme aus, und Gentle eilte über die Straße. Montag folgte ihm erneut, eine Whiskyflasche in der Hand.
    Der Nebel, hinter dem sich die Vierte Domäne erstreckte, wirkte einladend: eine Wand aus Dunst, der sich dauernd bewegte, ohne daß jemals eine Lücke in ihm entstand. Judith blieb davor stehen, blickte noch einmal zum Himmel hoch und erkannte den Großen Wagen - sie würde dieses Sternbild nie wiedersehen. »Das genügt als Abschied«, sagte sie und machte sich daran, die Grenze zwischen den Domänen zu passieren.
    Da ertönte in der Gasse hinter ihr das Geräusch eiliger Schritte, und Gentle rief ihren Namen. Jude hatte natürlich damit gerechnet, daß man vielleicht ihre Präsenz bemerken würde und war auf einen solchen Zwischenfall ebenso vorbereitet wie Hoi-Polloi. Keine der beiden Frauen drehte sich um, statt dessen gingen sie schneller durch den Nebel, der sich um sie herum verdichtete. Nach zehn oder zwölf Schritten filterte Sonnenschein von der anderen Seite durch das Grau, und die feuchte Kälte des Dunstes wich willkommener Wärme.
    Erneut hörten sie die Stimme des Rekonzilianten, doch der Lärm weiter vorn übertönte alles andere.
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    2

    In der Fünften verharrte Gentle am Rand der Nebelpforte. Er hatte sich geschworen, nie wieder eine andere Domäne aufzusuchen, doch der Alkohol beeinträchtigte diesen Entschluß. Seine Füße drängten danach, ihn in die Vierte zu tragen.
    »Nun, Boß...«, begann Montag. »Folgen wir ihnen oder nicht?«
    »Liegt dir etwas daran?«
    »Zufälligerweise ja, Boß.«
    »Bist du noch immer an Hoi-Polloi interessiert?«
    »Ich träume von ihr, Boß. In jeder Nacht sehe ich schielende Mädchen.«
    »Na schön«, brummte Gentle. »Wenn es darum geht, Träumen nachzujagen... Das ist ein guter Grund, den Frauen zu folgen.«
    »Tatsächlich?«
    »Ja, es ist ein guter Grund - und der einzige.«
    Gentle griff nach Montags Flasche und trank einen herzhaften

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