Imagica
ausgefallensten Beschreibungen anhörten. Angeblich hatte der Maestro Hochzeiten auf freiem Feld zelebriert, und an seinem Schlafplatz gedieh am nächsten Morgen üppiges Korn; Frauen wurden schwanger, nur weil sie aus seinem Becher tranken. Der Umstand, daß er bei den Völkern Imagicas bereits zu einer Legende geworden war, amüsierte Gentle zunächst, doch es dauerte nicht lange, bis daraus eine Belastung wurde. Er fühlte sich wie ein Geist unter diesen lebenden Versionen seiner selbst, wie ein Phantom, das unsichtbar bei jenen Zuhörern weilte, die sich eingefunden hatten, um zu hören, wie man von seinen Taten berichtete und die tatsächlichen Ereignisse dabei mit Erfundenem ausschmückte.
Er fand einen gewissen Trost darin, daß es nicht nur ihm so 131
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ging. Es gab auch andere Personen, die noch zu ihren Lebzeiten die Aura des Sagenumwobenen bekamen, und oft hörten die beiden Pilger von ihnen, wenn sie sich nach Judith und Hoi-Polloi erkundigten: Dann erzählte man ihnen von den Frauen, die Wunder vollbrachten. Im Anschluß an die Zerstörung von Yzordderrex war ein neuer Nomadenstamm in den Domänen entstanden: Nach der Befreiung vom Joch des Autokraten erschienen hier und dort Frauen, die über magische Macht geboten; ganz offen führten sie Rituale durch, die bis dahin auf Küche und Schlafzimmer beschränkt gewesen waren.
In diesem Fall gab es erhebliche Unterschiede zu den Geschichten über den Maestro Sartori, die größtenteils aus Imagination bestanden. Immer wieder sahen Gentle und Montag Anzeichen dafür, daß jene Schilderungen Wahres enthielten. So zum Beispiel in der Provinz Mai-Ke: Während der ersten Reise, die Gentle als John Furie Zacharias dort unternommen hatte, war die Gegend jahrelang von einer Trockenheit heimgesucht worden, durch die fruchtbares Land zu Staub wurde - jetzt sahen die Wanderer weite Kornfelder.
Das saftige Grün verdankten die Bewohner einer Frau, die einen unterirdischen Fluß erschnuppert und mit speziellen Beschwörungen an die Oberfläche gelockt hatte. In den Tempeln von L'Himby erregte eine Sibylle Aufsehen: Mit bloßen Händen und Speichel formte sie aus massivem Stein ein Modell, das die zukünftige Stadt repräsentierte, und angeblich sollte es nur ein Jahr dauern, bis L'Himby dem Bildnis entsprach. Die Prophezeiung erwies sich als so faszinierend, daß die Bürger nach der Andacht all das aus dem Ort entfernten, was sie als schmutzig und häßlich erachteten.
Gentle und Montag begaben sich anschließend nach Kwem in der Hoffnung, Scopique zu begegnen, und dort stellten sie fest, daß die Zapfengrube jetzt einen See enthielt. Kristallklares Wasser schimmerte darin, und normalerweise hätte man sicher bis zum Grund sehen können - wenn nicht das neu entstehende 1319
Leben gewesen wäre, das darin und darauf reifte. Zum größten Teil bestand es aus Vögeln, die ganz plötzlich in großen Schwärmen aufstiegen und gen Himmel flogen.
Hier bekamen Gentle und Montag eine Chance, die Wundertäterin kennenzulernen: Die für den See in der Zapfengrube verantwortliche Frau - ihre Akolythen meinten, sie hätte ihn ganz allein geschaffen, mit dem Inhalt ihrer Blase
- wohnte in den rußgeschwärzten Resten des Palastes von Kwem. Der Maestro hoffte, den Aufenthaltsort von Jude und Hoi-Polloi in Erfahrung zu bringen, als er die Ruinen des ehemaligen Prachtbaus betrat, um mit der Unbekannten zu sprechen. Zwar lehnte sie es ab, sich dem Rekonzilianten zu zeigen, aber sie beantwortete seine Fragen. Nein, sie hatte keine Reisenden gesehen, auf die Gentles Beschreibung zutraf.
Aber sie konnte ihm trotzdem sagen, wohin die gesuchten Personen gegangen waren. Für wandernde Frauen gab es jetzt nur noch zwei Richtungen: weg von und hin nach Yzordderrex.
Gentle bedankte sich für diese Information und bot eine Gegenleistung an. Die Fremde antwortete, daß sie nicht an einem Gefallen von ihm persönlich interessiert sei, sich jedoch freuen würde, wenn ihr der Junge für ein oder zwei Stunden Gesellschaft leistete. Ein wenig gekränkt kehrte Gentle nach draußen zurück und fragte Montag, ob er bereit sei, sich eine Zeitlang den Armen - und nicht nur ihnen - der geheimnisvollen Frau hinzugeben. Er war sofort einverstanden und eilte ins Boudoir der Wartenden. Unterdessen nahm der Maestro am Ufer des Sees Platz und dachte daran, daß es nun zum erstenmal geschah, daß eine Frau, die sich sexuelle Aufmerksamkeit wünschte, einen anderen Mann wählte. Wurde er langsam
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