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Imagica

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Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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rang eine Zeitlang mit sich selbst, bevor er entschied: Weihnachten endete sein Dienst in der Gamut Street. Nach den Feiertagen wollte er Nummer achtundzwanzig verlassen, sich einen Weg durch die Menge von Tick Raws Ausflüglern bahnen und zu dem Haus zurückkehren, in dessen Zimmern er zusammen mit Tay vor zwölf Monaten ein ganz besonderes Weihnachtsfest veranstaltet hatte.
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    Judith und Hoi-Polloi ließen sich Zeit bei ihrem Weg durch die Domänen. Es gab zahllose Pfade, zwischen denen man wählen konnte, gepflastert von vielen Freuden, und daher erschien 1323

    Hast wie eine Sünde. Sie hatten auch gar keinen Grund, sich zu beeilen. Nichts trieb sie an; nichts lenkte ihre Schritte in eine ganz bestimmte Richtung. Das glaubte Judith jedenfalls. Besser gesagt: Sie wollte es glauben. Tief in ihrem Innern wußte sie es besser. Manchmal tauchte bei Gesprächen die Frage nach dem letztendlichen Ziel der Reise auf, und dann vermied es Jude, jenen Namen zu nennen, der ihr ebenso auf der Zunge lag wie allen anderen Frauen, denen sie unterwegs begegneten. Wenn Hoi-Polloi darauf hinwies, dort geboren worden zu sein, weckte sie die Neugier ihrer Reisebekanntschaften, die dann begannen, Dutzende von Fragen zu stellen. Stimmte es, daß es im Hafen nun von Fischen wimmelte, die aus den Tiefen des Ozeans stammten - seltsame Geschöpfe, die das Geheimnis des Ursprungs aller Frauen kannten und des Nachts durch die überfluteten Straßen schwammen, um am Hang des Berges zu den Göttinnen zu beten? Stimmte es, daß die Frauen an jenem Ort Kinder bekommen konnten, ohne sich mit Männern einzulassen, daß es sogar möglich war, sich Babys zu er-träumen? Stimmte es, daß in der Stadt Jungbrunnen existierten und Bäume mit nie gekosteten Früchten? Und so weiter, und so fort.
    Ab und zu erfüllte Judith die Bitte, von Yzordderrex und den dortigen Veränderungen zu erzählen, einen Palast zu beschreiben, dem vom Wasser eine ganz neue Gestalt verliehen worden war, von Flüssen zu berichten, die den Gesetzen der Schwerkraft trotzten und am Berghang empor strömten.Doch solche Dinge verblaßten im viel helleren Glanz der Gerüchte.
    Nachdem Jude einige Male den Eindruck gewonnen hatte, daß ihre Zuhörer lieber von erfundenen Wundern gehört hätten, anstatt durch Hinweise auf eine etwas nüchterne Realität enttäuscht zu werden, teilte sie Hoi-Polloi mit, daß sie nicht noch einmal an solchen Gesprächen teilnehmen wolle. Doch ihre Fantasie ließ sich nicht so einfach unterdrücken. Als sie Kilometer um Kilometer auf dem Fastenweg zurücklegten, 132
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    dachte Judith immer häufiger daran, was sie tatsächlich in Yzordderrex erwarten mochte, und eine sonderbare Mischung aus Unruhe und Ehrfurcht wuchs in ihr. Vielleicht hatte sie zuviel Zeit außerhalb der Stadt verbracht? Vielleicht hatte sie dadurch den ihr zuteil gewordenen Segen verloren? Oder die Göttinnen wußten, daß sie Sartori ihre Liebe gestanden hatte -
    was ihr Jokalaylaus Verachtung einbringen mochte, wenn sie jemals wieder den Tempel betrat.
    Als sie sich der Stadt näherten, erwiesen sich solche Überlegungen jedoch als müßig. Es gab jetzt kein Zurück mehr, auch deshalb nicht, weil die beiden Frauen müde und erschöpft waren. Yzordderrex rief sie aus dem Nebel, der zwischen den Domänen wallte, und diesem Ruf würden sie folgen, ganz gleich, was die Stadt für sie bereithielt: ein Urteil, Wunder oder Fische aus der Tiefsee.
    Oh, und ob sich die Stadt verändert hatte! In der Zweiten Domäne war es jetzt wärmer als bei Judiths letztem Besuch, und das Wasser in den Straßen sorgte für eine hohe Luftfeuchtigkeit - dadurch schien eine fast tropische Schwüle zu herrschen. Noch atemberaubender wirkte die überall wuchernde Vegetation. Das Wasser hatte Samen und Sporen aus Höhlen und Gewölben unter der Stadt nach oben getragen, und unter dem Einfluß der Göttinnen erfolgte ein beschleunigtes Wachstum. Uralte Pflanzen, die als ausgestorben galten, gediehen zwischen den Pflastersteinen und verwandelten die Kesparaten in einen dichten Dschungel.
    In nur einem halben Jahr war Yzordderrex zu einer ›verlorenen Stadt‹ geworden, heilig für Frauen und Kinder, umhüllt von einem grünen Mantel. Überall erfüllte der Geruch von Reife die Luft; hervorgerufen wurde er von exotischen Früchten an Reben, Ranken und Zweigen. Ihre verblüffende Menge lockte Tiere an, die sich unter anderen Umständen nie nach Yzordderrex gewagt hätten. Inmitten dieser Metropole aus überall

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