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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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    Als Montag zwei Stunden später aus der Ruine kam (mit geröteten Wangen und Ohren), saß Gentle noch immer am See und hatte es inzwischen aufgegeben, an der Karte zu arbeiten.
    Einige kleine Haufen aus Kieselsteinen umgaben ihn.
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    »Was hat es damit auf sich?« fragte der Junge.
    »Ich habe meine Romanzen gezählt«, erklärte der Maestro.
    »Jeder Haufen symbolisiert hundert Frauen.«
    Es waren insgesamt sieben.
    »Sind das alle?«
    »An mehr erinnere ich mich nicht«, sagte Gentle.
    Montag ging in die Hocke.
    »Bestimmt hättest du nichts dagegen, sie noch einmal zu lieben?«
    Der Rekonziliant dachte eine Zeitlang darüber nach, und schließlich entgegnete er:
    »Ich glaube, da irrst du dich. Ich habe gute Arbeit geleistet und mir Mühe gegeben. Jetzt wird es Zeit, jüngeren Männern den Vortritt zu lassen.«
    Gentle hielt einen Stein in der Hand, holte aus und warf ihn zur Mitte des Sees.
    »Bevor du fragst...«, murmelte er. »Das war Jude.«
    Nach dem Zwischenaufenthalt im Bereich der ehemaligen Zapfengrube von Kwem ließen sich die beiden Reisenden von nichts mehr ablenken. Jetzt brauchten sie keinen Gerüchten mehr nachzugehen, die von irgendwelchen sonderbaren Frauen kündeten. Gentle und Montag wandten sich von den Resten des Kwem-Palastes ab, und wenige Stunden später waren sie auf dem Fastenweg, der sich kaum verändert zu haben schien.
    Noch immer war er belebt von dichtem Verkehr und reichte als schnurgerades Band bis zum Horizont und darüber hinaus - ein Pfeil, der auf das heiße Herz von Yzordderrex zielte.
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KAPITEL 62
l
    In der Fünften Domäne - in England - hielt der Winter Einzug.
    Halloween bot den Leuten zum letztenmal Gelegenheit, sich abends ohne Mäntel, Hüte und Handschuhe nach draußen zu wagen. Außerdem nahmen erstaunlich viele Londoner den Vorabend von Allerheiligen zum Anlaß, die Gamut Street zu besuchen, von der sie gerüchteweise gehört hatten. Einige machten schon nach kurzer Zeit kehrt, doch andere blieben, verharrten am Haus Nummer achtundzwanzig und starrten den halb verkohlten Baum vor dem Gebäude und die seltsamen Bilder an der Tür an.
    Nach jenem Abend wurde es immer kälter, und gegen Ende November verzichteten selbst die liebestollsten Kater darauf, die herrliche Wärme des Kaminfeuers zugunsten irgendwelcher Abenteuer im Freien aufzugeben. Trotzdem ließ der in beide Richtungen fließende Besucherstrom nicht nach. An jedem Tag wanderten normale Bürger durch die Gamut Street und begegneten dort Ausflüglern, die in anderen Domänen zu Hause waren. Einige zur ersten Kategorie zählende Personen kamen regelmäßig; Clem erkannte sie wieder und beobachtete, wie sie immer mehr Mut faßten und begriffen, daß ihre seltsamen Empfindungen nicht auf beginnendem Wahnsinn basierten. Wunder warteten hier auf Entdeckung, und offenbar gelang es den Männern und Frauen allmählich, sie zu lokalisieren, denn die Betreffenden verschwanden. Manchen Leuten widerstrebte es, allein in den Transfernebel vorzudringen. Sie kehrten mit Freunden zurück, zeigten ihnen die Straße wie ein geheimes Laster, flüsterten erst und lachten dann, wenn ihre Begleiter die Geister ebenfalls sahen.
    Die Sache sprach sich herum, und dabei handelte es sich um 132
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    den einzigen erfreulichen Aspekt jener Tage und Nächte. Tick Raw verbrachte immer mehr Zeit im Haus, und daher mangelte es nie an Lebhaftigkeit, aber Clem vermißte Gentle. Zwar hatte er damit gerechnet, daß der Maestro irgendwann dem Reiz Imagicas nachgeben und dann nicht mehr zu den Bewohnern des Hauses zählen würde, doch er verlor dadurch einen lieben Freund. Nur noch ein wahrer Gefährte blieb ihm, der Mann, mit dem er seinen Kopf teilte, und als der Jahrestag von Tays Tod näher kam, verschlechterte sich ihrer beider Stimmung immer mehr. Angesichts der Präsenz so vieler lebender Seelen auf der Straße wirkten die nach wie vor ruhelosen Phantome kummervoller als jemals zuvor, und ihre melancholische Schwermut steckte an. Während der Vorbereitungen für die Rekonziliation hatte Taylor seinem Freund Clem gern Gesellschaft geleistet, doch jetzt brauchten sie nicht mehr die Aufgaben von Schutzengeln wahrzunehmen. Tay spürte eine ähnliche Unruhe wie die draußen hin und her schwebenden Geister: Er wollte fort.
    Als der Dezember begann, fragte sich Clem, wie lange er noch auf seinem Posten bleiben konnte - er hatte den Eindruck, daß die Verzweiflung des anderen Ichs in ihm mit jeder verstreichenden Stunde wuchs. Er

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