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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Gentle hervor.
    Pie blickte über die Schulter, zu einem Schutthaufen, der einst ein Wohnwagen gewesen war. Zacharias verlor keine Zeit und sprintete los, doch Pie'oh'pah hielt ihn fest und reichte ihm das Kind.
    »Bringen Sie es in Sicherheit«, sagte er.
    Gentle warf die Jacke beiseite und nahm das Bündel entgegen.
    » Verlassen Sie das Lager!« fuhr Pie fort. »Ich folge Ihnen gleich.«
    Er wartete nicht ab, um festzustellen, ob Gentle seiner Aufforderung nachkam, drehte sich um und hastete zu den Resten des Wohnwagens.
    Zacharias betrachtete das Kind in seinen Armen. Ein kleines Mädchen, blutig, mit rußgeschwärztem Gesicht. Zweifellos tot.
    Oder? Vielleicht war es möglich, den Säugling zu retten, wenn er sich beeilte. Doch wohin sollte er sich wenden? Der Rückweg war abgeschnitten, und vor ihm brannten mehrere Fahrzeuge. Damit blieb nur der Ausweg nach links oder rechts, Gentle entschied sich für links, weil er dort etwas Seltsames hörte: ein fast melodisches Pfeifen. Es bewies, daß man dort zumindest atmen konnte.
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    Der Hund begleitete ihn, aber nur wenige Meter weit. Dann wich er zurück und ignorierte den Umstand, daß die Luft mit jedem Schritt kühler wurde und weiter vorn eine Lücke zwischen den Flammen erschien. Eine Lücke, die jedoch nicht leer blieb. Als sich Gentle ihr näherte, zeigte sich ihm jemand: Der Fremde pfiff noch immer, obgleich seine Haare brannten und das Fleisch der erhobenen Hand verkohlt war. Er setzte einen Fuß vor den anderen, wandte den Kopf und sah Zacharias an.
    Das Pfeifen klang jetzt fast schrill, aber weit schlimmer als dies war der Blick. Die Augen glichen Spiegeln, die das Feuer reflektierten: Sie flackerten und qualmten. Das ist der Brandstifter, dachte Gentle. Beziehungsweise einer von ihnen.
    Deshalb pfiff er, während es brannte: Dies war seine Seligkeit.
    Ohne sich um Gentle oder das Kind zu kümmern, schritt er mitten in den Rauch und das Flammenmeer hinein und gab damit den Weg frei. Die kühlere Luft wirkte fast berauschend auf Zacharias und ließ ihn taumeln. Er drückte das Kind fester an sich, allein von dem Gedanken beseelt, es zur Straße zu bringen. Zwei mit Schutzhelmen und Atemmasken ausgerüstete Feuerwehrleute halfen ihm dabei, diese Absicht zu verwirklichen. Sie sahen Gentle schon von weitem und kamen ihm mit ausgestreckten Armen entgegen. Einer nahm das Bündel, und der andere stützte ihn, als die Beine unter ihm nachgaben.
    »Es sind noch Leute da drin!« stieß Zacharias hervor und deutete ins Flammenmeer. »Helfen Sie ihnen!«
    Einer der beiden Feuerwehrmänner wich nicht von seiner Seite und geleitete Gentle durch den Wellblechzaun und auf die Straße. Dort warteten Krankenpfleger mit Bahren und Decken, die ihn beruhigten und ihm sagten, daß für ihn nun alles in Ordnung sei. Aber wie konnte alles in Ordnung sein, solange Pie'oh'pah noch irgendwo den Flammen ausgesetzt war? Er streifte die Decke von den Schultern, lehnte eine 191

    Sauerstoffmaske ab und bestand darauf, zum Lagerplatz zurückzukehren. Viele Verletzte mußten dringend behandelt werden, und deshalb versuchte man nicht, Gentle zu-rückzuhalten. Überall ertönten Schreie, und sie stammten in erster Linie von den Männern und Frauen, die eine Menge Glück gehabt hatten. Zacharias sah andere, die auf Bahren an ihm vorbeigetragen wurden und denen es so schlecht ging, daß sie nicht einmal mehr stöhnten. Sein Blick wanderte weiter zu den Körpern auf dem Boden: Halb verbrannte Gliedmaßen ragten hier und dort unter Tüchern hervor. Schließlich wandte er sich von dem Schrecken ab und stapfte am Rand des Lagers entlang.
    Man riß den Wellblechzaun nieder, um Schläuche auszurollen, die wie kopulierende Schlangen auf der Straße lagen. Motoren dröhnten und pumpten Löschwasser; das Schimmern blinkender Blaulichter verlor sich im Glanz der Flammen. Gentle stellte fest, daß sich viele Schaulustige eingefunden hatten. Die Menge jubelte, als der Zaun fiel und Myriaden Funken stoben. Zacharias ging weiter, während Feuerwehrleute vorrückten und mit ihren Schläuchen das Feuer bekämpften. Er lief halb um das Lager herum und blieb auf der anderen Seite stehen; dort wichen die Flammen an mehreren Stellen zurück; Rauch und Qualm ersetzten ihren lodernden Zorn. Die Schwaden wuchsen, und Gentle hielt nach Anzeichen von Leben Ausschau. Erst das Eintreffen weiterer Feuerwehrmänner veranlaßte ihn schließlich, dorthin zurückzukehren, wo er seine Wanderung begonnen hatte.
    Von

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