Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
einfache Lösung zu hören - obwohl er genau wußte, daß sich sein Problem auf diese Weise nicht aus der Welt schaffen ließ.
    Manchmal neigte sich seine Mystif-Seele zu sehr jenen Ambiguitäten zu, die sein wahres Selbst widerspiegelten.
    Trotzdem: Theresas Worte stimmten ihn nachdenklich und erinnerten daran, daß er Gesicht und Funktion hatte, sogar ein Geschlecht in seiner gegenwärtigen Gestalt. Ihrer Meinung nach nahm er einen festen Platz in der begrenzten Welt aus Kindern, Hunden und geschälten Orangen ein. Unter diesen bescheidenen Umständen gab es keinen Raum für Poesie; zwischen einem freudlosen Morgengrauen und einer von Unbehagen geprägten Abenddämmerung existierte nicht der 185

    Luxus von Zweifel und Spekulation.
    Jetzt war es erneut dunkel geworden, und im Wohnwagen brachte Theresa die Kinder zu Bett. Sie schliefen sofort ein.
    Pie'oh'pah hatte einen Zauber verwendet, der aus den Tagen seiner Macht stammte: Er sprach eine Art Gebet ins Kissen, auf daß es angenehme Träume schenke. Sein Maestro war oft mit einer solchen Bitte an ihn herangetreten, und Pie verwendete diesen Trick auch heute noch, zweihundert Jahre später.
    Theresa ahnte nichts davon, aber die Köpfe ihrer Kinder ruhten auf sanften Wiegenliedern, die sie von der Finsternis ins Licht geleiten sollten.
    Lautes Bellen erklang; es stammte von der Promenadenmischung, die Pie am Morgen gesehen hatte. Er ging nach draußen, um den Hund zu beruhigen. Als das Tier ihn bemerkte, zerrte es an der Kette und versuchte, ihn zu erreichen. Der Köter gehörte einem Mann, zu dem Pie kaum Kontakte unterhielt, einem jähzornigen Schotten, der den Hund dauernd mißhandelte. Pie ging in die Hocke und summte ein leises »Pscht« - wenn der Hund auch weiterhin bellte, wurde vielleicht sein Herrchen aufmerksam. Das Tier gehorchte, scharrte jedoch weiterhin mit den Pfoten; es wollte ganz offensichtlich von der Kette befreit werden.
    »Was ist denn los?« fragte Pie und kraulte die Promenadenmischung hinter den Ohren. »Wartet eine Freundin auf dich?«
    Er sah zum Rand des Lagerplatzes und beobachtete, wie eine schemenhafte Gestalt in den Schatten hinter einem Wohnwagen verschwand. Einmal mehr ertönte zorniges Bellen. Pie stand auf.
    »Wer ist da?« fragte er.
    Eine Sekunde später hörte er ein Geräusch am anderen Ende des Lagers: plätscherndes Wasser. Nein, kein Wasser. Er nahm einen unverkennbaren Geruch wahr - Benzin. Pie wandte den Kopf und sah zu seinem eigenen Wohnwagen hinüber.
    186

    Theresas Silhouette zeichnete sich an der Jalousie ab und verschwand, als sie die kleine Lampe neben dem Kinderbett ausschaltete.
    Der Mystif bückte sich erneut und löste die Kette.
    »Faß!« zischte er. »Faß!«
    Das Tier stürmte los und auf jemanden zu, der gerade durch eine Lücke im Wellblechzaun schlüpfte. Pie wandte sich um, eilte zum Wohnwagen und rief Theresas Namen.
    Hinter ihm verlangte jemand Ruhe, und ein Fluch folgte -
    der sich im Donnern einer Explosion verlor. Nein, es war keine Explosion, sondern ein zweifaches Fauchen wie von...
    Flammen züngelten und erhellten das ganze Lager. Theresa schrie, und Feuer tastete nach dem Wohnwagen. Das verschüttete Benzin kam einer Zündschnur gleich, und Pie hatte noch keine zehn Meter zurückgelegt, als die Bombe unter dem Wagen detonierte, das Fahrzeug anhob und zur Seite schleuderte.
    Eine Druckwelle, die nur aus Hitze zu bestehen schien, riß Pie'oh'pah von den Beinen. Als er sich wieder in die Höhe stemmte, stand der Wohnwagen in Flammen. Er taumelte durch die kochende Luft, dem lodernden Scheiterhaufen entgegen, und unterwegs hörte er einen schluchzenden Schrei.
    Überrascht stellte er fest, daß sich dieser Laut seiner eigenen Kehle entrang. Er hatte ganz vergessen, daß er imstande war, ein solches Geräusch von sich zu geben, doch er verstand die Botschaft sofort: Kummer, Trauer und Verzweiflung.
    Gentle erreichte jene Kirche, an die sich Estabrook erinnert hatte, als es plötzlich hell wurde - die Sonne schien der Nacht einen Streich zu spielen, sie zu verbrennen. Der Wagen von Gentle geriet ins Schleudern, und er konnte einen Unfall nur verhindern, indem er auf den Bürgersteig auswich. Nach einer Vollbremsung kam sein Auto nur wenige Zentimeter von der Kirchenmauer entfernt zum Stehen.
    Er stieg aus und setzte den Weg zu Fuß fort. Dichte 187

    Rauchschwaden wallten ihm entgegen, und Gentle sah das Ziel wie durch einen Schleier: ein Wellblechzaun, dahinter ein Platz, auf dem Wohnwagen

Weitere Kostenlose Bücher