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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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seien ihm nur wenige Dinge aufgefallen.
    Gentle achtete darauf, ihn nicht zu sehr unter Druck zu setzen, während Estabrook die Reise in Gedanken wiederholte. Sein Zeigefinger kroch dabei über die Straßenkarte.
    Sie waren erst durch Lambeth gefahren, sagte der Kahlköpfige, anschließend durch Kennington und Stockwell.
    An Clapham Common entsann er sich nicht, woraus er den Schluß zog, daß sich das Ziel irgendwo im Osten befand, in der Nähe von Streatham Hill. Er erinnerte sich an eine Kirche und suchte ein Kreuz auf der Karte. Es gab mehrere, und eines befand sich unweit einer Eisenbahnlinie, die ihm ebenfalls eingefallen war. An dieser Stelle meinte Estabrook, er könne jetzt keine Richtungshinweise mehr anbieten, nur noch eine Beschreibung des Ortes: eine Barriere aus Wellblech und Wohnwagen, dazwischen Lagerfeuer.
    »Bestimmt finden Sie dorthin«, sagte er.
    »Das hoffe ich für Sie«, erwiderte Gentle.
    Er hatte Estabrook nichts von den Umständen erzählt, die ihn hierher geführt hatten - obgleich sich Charlie mehrmals nach Judith erkundigte. Jetzt wiederholte er diese Frage.
    »Bitte...«, begann er. »Ich bin ganz ehrlich zu Ihnen gewesen
    - sagen Sie mir jetzt: Wie geht es Judith?«
    »Sie ist putzmunter«, antwortete Gentle.
    »Hat sie mich erwähnt? Das war zweifellos der Fall. Was sagte sie? Haben Sie ihr mitgeteilt, daß ich sie noch immer liebe?«
    »Ich bin nicht Ihr Kurier oder Sprachrohr«, entgegnete Gentle. »Reden Sie selbst mir ihr. Falls sie bereit ist, Ihnen zuzuhören.«
    »Wie soll ich vorgehen?« Estabrook griff nach Gentles Arm.
    »Sie kennen sich mit Frauen aus, nicht wahr? So heißt es 183

    jedenfalls. Wie kann ich Judith dazu bringen, mir zu verzeihen?«
    »Schneiden Sie sich den Pimmel ab und schicken Sie ihn ihr«, schlug Gentle vor. »Alles andere wäre unangemessen.«
    »Sie halten das für komisch.«
    »Meinen Sie den Versuch, die Geliebte ermorden zu lassen?
    Nein, so etwas finde ich ganz und gar nicht amüsant. Und der Umstand, daß Sie es sich anders überlegt haben und möchten, daß alles so wird wie früher - so etwas finde ich absurd.«
    »Warten Sie, bis Sie jemanden so lieben wie ich Judith.
    Wenn Sie überhaupt dazu fähig sind, was ich bezweifle.
    Warten Sie, bis Sie jemanden so sehr begehren, daß Sie fast überschnappen. Dann verstehen Sie mich.«
    Gentle reagierte nicht auf diese Bemerkung - sie kam der Wahrheit viel näher, als ihm lieb war.
    Als er das Haus verließ und draußen verharrte, mit der Straßenkarte in der Hand, stahl sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen. Er hatte nun einen Ansatzpunkt, eine Chance.
    Das Zwielicht des Winterabends kroch bereits durch die Stadt, und Gentle hieß es willkommen: Vielleicht gab es in der Welt keinen Platz mehr für die Liebe, aber Dunkelheit war noch immer willkommen.
    2
    Es gelang Pie'oh'pah nicht, die Unruhe des vergangenen Abends abzustreifen, und als er gegen Mittag mit Theresa sprach, schlug er vor, das Lager zu verlassen. Die junge Frau war alles andere als begeistert. Das Baby hatte sich erkältet und die ganze Nacht über geweint. Auch das andere Kind litt an leichtem Fieber - und Theresa hielt dies nicht für den geeigneten Zeitpunkt, mit irgendeiner Reise zu beginnen. »Wir nehmen den Wohnwagen mit«, erwiderte Pie. »Wir verlassen nur die Stadt. Was hältst du davon, wenn wir zur Küste fahren?
    Die frische, saubere Luft tut den Kindern bestimmt gut.« Diese 184

    Vorstellung gefiel Theresa. »Morgen«, sagte sie. »Oder übermorgen. Aber nicht heute.«
    Pie betonte mehrmals, es sei besser, sofort aufzubrechen, und schließlich erkundigte sich die junge Frau nach dem Grund für seine Nervosität. Er schwieg, weil er ihr keine Antwort geben konnte. Sie wußte nichts von seinem wahren Wesen und hatte nie nach Pies Vergangenheit gefragt. Er war schlicht und einfach jemand, der sich um sie kümmerte und sie des Nachts umarmte, der dafür sorgte, daß die Kinder genug zu essen bekamen. Theresa sah ihn stumm an, und als ihr Blick auch weiterhin auf ihm ruhte, fühlte er sich zu einer Erklärung verpflichtet.
    »Ich bin besorgt«, sagte er.
    »Es geht um den alten Mann, nicht wahr?« vermutete Theresa. »Ich meine den Besucher, den du hier empfangen hast. Was hat es mit ihm auf sich?«
    »Er gab mit einen Auftrag.«
    »Und hast du ihn erledigt?«
    »Nein.«
    »Glaubst du, daß er zurückkehrt?« fragte Theresa. »Dann hetzen wir die Hunde auf ihn.«
    Pie'oh'pah empfand es als sehr angenehm, eine so

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