Imagica
Pie'oh'pah fehlte jede Spur. Er lag auf keiner Bahre und stand auch nicht bei den wenigen Überlebenden, die es wie Gentle ablehnten, sich behandeln zu lassen. Dichter Rauch kündete von der Niederlage des Feuers, und als Gentle die Leichen unter den Tüchern erreichte, konnte er kaum mehr etwas sehen. Er starrte auf die Toten hinab. Lag hier auch Pie'oh'pah? Zögernd näherte er sich dem ersten Körper, doch 192
eine Hand berührte ihn an der Schulter. Er drehte den Kopf und sah einen Polizisten, dessen Züge so weich und glatt waren wie die eines Chorknaben.
»Sie haben das Kind hierhergebracht, nicht wahr?« fragte der Uniformierte.
»Ja. Ist mit dem kleinen Mädchen alles in Ordnung?«
»Tut mir leid. Die Ärzte konnten ihm nicht helfen. War es Ihre Tochter?«
Gentle schüttelte den Kopf. »Ich habe noch jemand in den Flammen gesehen. Einen Schwarzen mit lockigem Haar und blutigem Gesicht. Hat er den Lagerplatz verlassen?«
»Ich kenne niemand, auf den diese Beschreibung paßt«, antwortete der Polizist in förmlichem Tonfall.
Gentle blickte wieder die Leichen an.
»Es hat keinen Sinn, dort zu suchen«, sagte der Beamte. »Sie sind alle verbrannt - und schwarz. Ganz gleich, welche Hautfarbe sie vorher hatten.«
»Ich muß nachsehen«, beharrte Zacharias.
»Es ist völlig sinnlos«, betonte der Polizist noch einmal.
»Alle Opfer sind bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Kommen Sie, ich führe Sie zu einem Krankenwagen. Mir scheint, Sie brauchen medizinische Hilfe.«
»Nein. Ich suche weiter.« Gentle wollte sich abwenden, doch der Beamte griff nach seinem Arm.
»Sie sollten sich besser vom Zaun fernhalten, Sir«, sagte er.
»Es besteht Explosionsgefahr.«
»Aber vielleicht ist er noch immer dort drüben.«
»In dem Fall gibt es keine Hoffnung mehr für ihn. Ich bezweifle, ob wir auf dem Platz Überlebende finden. Bitte begleiten Sie mich jetzt. Sie können sich das alles von der Absperrung aus ansehen.«
Gentle schüttelte die Hand des Uniformierten ab.
»Ich gehe allein«, sagte er. »Ich brauche keine Eskorte.«
Es dauerte eine Stunde, um das Feuer vollkommen unter 193
Kontrolle zu bringen, und als es soweit war, blieb praktisch nichts Brennbares mehr übrig. Gentle wartete am Absperrseil und beobachtete, wie Krankenwagen Verletzte fortbrachten und wieder zurückkehrten, um die Leichen abzuholen. Der Polizist mit dem glatten Gesicht behielt recht: Es gab keine weiteren Überlebenden. Zacharias rührte sich trotzdem nicht von der Stelle, bis nur noch wenige Schaulustige übrigblieben, bis das Feuer fast ganz gelöscht war. Er gab die Hoffnung erst auf, als die letzten Feuerwehrleute den Brandplatz verließen und ihre Schläuche aufrollten. Erschöpfung machte seine Glieder schwer, aber sie schienen ihm leicht im Vergleich zu dem Druck, der auf seiner Brust lastete. Er ging schweren Herzens, im wahrsten Sinne des Wortes: Der pumpende Muskel schien sich in Blei zu verwandeln und das weiche Fleisch der übrigen inneren Organe zu zerquetschen.
Als er zum Wagen wankte, hörte er erneut das Pfeifen - ein seltsam unmelodisches Geräusch, das durch die rußige Luft schwebte. Gentle blieb stehen und drehte sich langsam um die eigene Achse, doch der Pfeifer war bereits außer Sicht, und Zacharias fühlte sich viel zu müde, um eine Verfolgung auch nur in Erwägung zu ziehen. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, den Unbekannten zu stellen und damit zu drohen, ihm die verbrannten Knochen zu brechen: Was nützte es? Mit derartigen Drohungen konnte er wohl kaum ein Wesen beeindrucken, das pfiff, während es in Flammen stand. Und auch wenn es bereit gewesen wäre, Auskunft zu geben - Gentle hätte die Antwort vermutlich nicht besser verstanden als Chants Brief, und zwar aus ähnlichen Gründen. Sie stammten beide aus dem gleichen unbekannten Land, dessen Grenzen Zacharias während seines Aufenthalts in New York gestreift hatte, aus einer Welt, in der man einen Gott namens Hapexamendios verehrte und der Pie'oh'pah seine Existenz verdankte. Gentle klammerte sich an der Überzeugung fest, daß es ihm früher oder später gelingen würde, jene andere Sphäre 194
aufzusuchen, und dann würden sich ihm alle Geheimnisse offenbaren. Dann erfuhr er vielleicht, was es mit dem Pfeifer auf sich hatte, mit dem Brief - und mit jenem Wesen, das ihn so sehr faszinierte. Vielleicht gelang es ihm sogar, das Rätsel seiner selbst zu lösen. Wenn er morgens in den Spiegel sah, glaubte er, ein vertrautes Gesicht zu erkennen,
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