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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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standen - die meisten von ihnen brannten. Selbst ohne Estabrooks Beschreibung wäre er imstande gewesen, diesen Ort als Pie'oh'pahs Zuhause zu identifizieren: Das Unheil und Zerstörung bringende Feuer bot einen deutlichen Hinweis. Der Tod war ihm zuvorgekommen, wie sein eigener Schatten, projiziert von einer noch viel helleren Glut hinter ihm. Das Wissen um jenen anderen Kataklysmus gehörte zu den subtilen Interaktionen zwischen Gentle und dem Killer. Es flüsterte im ersten Wortwechsel auf der Fifth Avenue. Es brodelte in seinem ungestümen Umgang mit der Leinwand im Atelier. Besonders heiß und grell brannte es in seinem Traum, in jenem Zimmer, das er erfunden hatte (oder an das er sich erinnerte) - dort bat er Pie um das Geschenk des Vergessens. Welches gemeinsame Erlebnis war so schrecklich und grauenhaft, daß er lieber sein ganzes Leben vergaß, anstatt sich mit entsprechenden Erinnerungen zu belasten? Um was auch immer es sich handeln mochte: Es fand ein Echo in dieser neuerlichen Katastrophe. Jetzt bereute er die Lücken in seinem Gedächtnis und wünschte sich verlorene Kenntnis zurück: Welches Verbrechen hatte er begangen, um Unschuldigen eine solche Strafe zu bringen?
    Das Lager war ein Inferno. Wind ließ die Flammen höher emporlodern, gab ihnen neue Nahrung, und lebendes Fleisch wurde zum Spielzeug des Feuers. Gentle konnte nur mit Urin und Spucke gegen den verheerenden Brand ankämpfen, und solche Mittel nützten natürlich nichts. Trotzdem eilte er weiter, während ihm der Qualm Tränen in die Augen trieb. Er wußte nicht, ob er in dem Chaos überleben konnte, und dachte nur an eines: Pie'oh'pah befand sich irgendwo in dieser Hölle, und ihn jetzt zu verlieren... Es lief darauf hinaus, alles aufzugeben.
    Einige Personen waren den Flammen entkommen, aber nicht viele. Gentle rannte an ihnen vorbei zur Lücke in der 188

    Wellblechbarriere. Manchmal sah er den Weg ganz deutlich vor sich, doch dann drehte der Wind und wehte ihm erneut Rauch entgegen, der alle Konturen verschlang. Er zog die Lederjacke aus und stülpte sie sich über den Kopf, um halbwegs vor der Hitze geschützt zu sein, bevor er sich durch den Zaun zwängte. Weiter vorn bildete das Feuer eine regelrechte Mauer. Gentle wich nach links aus, kam an zwei brennenden Fahrzeugen vorbei und nahm bereits den scharfen Geruch von angesengtem Leder wahr, als er die Mitte des Lagers erreichte. Hier gab es kaum entzündbares Material, und daher war dieser Bereich bisher von der Glut verschont geblieben. Doch auf allen Seiten züngelten Flammen, und nur drei Wohnwagen hatten noch kein Feuer gefangen. Der Wind trug den Funkenregen in ihre Richtung, und bestimmt dauerte es nicht mehr lange, bis sie das Schicksal der anderen Fahrzeuge teilten. Wer bisher noch nicht geflohen war, fand kaum mehr Gelegenheit, dem Tod zu entrinnen. Die Hitze gewann ein schier unerträgliches Ausmaß, dennoch hielt Gentle an dem mentalen Bild des Wesens fest, das er hier zu finden hoffte; er wollte auch weiterhin suchen, bis er Pie'oh'pahs wachem Blick begegnete - oder auf seine Asche hinabstarrte.
    Ein Hund erschien im Rauch und bellte hysterisch. Er sauste an Gentle vorbei, doch jähe Stichflammen trieben ihn in die Richtung zurück, aus der er kam. Das Tier geriet in Panik, stob davon, und Gentle beschloß, ihm zu folgen. Er rief Pies Namen. Mit jedem Atemzug drang heißere Luft in seine Lungen, bis er nur mehr krächzte. Der Qualm raubte Gentle auch die Orientierung: Schon nach kurzer Zeit wußte er nicht mehr, wo er sich befand. Die Welt um ihn herum bestand einzig und allein aus Flammen.
    Irgendwo in dem Rauch erklang neuerliches Bellen.
    Zacharias ließ sich davon den Weg weisen und dachte daran, daß er vielleicht nur gekommen war, um das Leben eines 189

    Tieres zu retten. Seine Augen vergossen noch mehr Tränen, und es fiel ihm sogar schwer, den Boden unter seinen Füßen zu erkennen. Abrupt verklang das Bellen, was in Gentle das Gefühl der Hilflosigkeit erneuerte. Er zögerte nur kurz, taumelte dann weiter und hoffte, daß die Stille nicht auf den Tod des Hundes hindeutete. Schließlich sah er ihn. Die Promenadenmischung rührte sich nicht von der Stelle und zitterte vor Entsetzen.
    Gentle wollte gerade nach dem Tier rufen, als er beobachtete, wie dahinter eine dunkle Gestalt aus dem Rauch trat. Ihre Augen tränten ebenfalls, und Blut klebte an Mund und Hals. In den Armen hielt er ein kleines Bündel - ein Kind.
    »Gibt es noch andere Überlebende?« stieß

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