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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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doch jetzt wußte er, daß auch dies einer verschlüsselten Botschaft gleichkam; er hatte den Code vergessen und konnte sich nur mit der Hilfe unbekannter Götter daran erinnern.
    3
    Godolphin kam die ganze Nacht über nicht zur Ruhe. Er blieb wach und hörte sich die Nachrichten an. Eine wahre Tragödie: Die Anzahl der Opfer nahm immer mehr zu; im Krankenhaus waren zwei weitere Verletzte gestorben. Man spekulierte über die Ursachen des Feuers, und selbsternannte Experten versäumten nicht, darauf hinzuweisen, daß auf derartigen Lagerplätzen die üblichen Sicherheitsvorschriften häufig ignoriert wurden. Sie verlangten, daß sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß mit dieser Angelegenheit befassen müsse, damit sich solche Katastrophen nicht wiederholten.
    Die Berichte entsetzten Oscar. Er hatte Dowd erlaubt, den Mystif zu erledigen (obgleich er sich noch immer fragte, welche Motive dahintersteckten), doch der Beschworene mißbrauchte die ihm gewährte Freiheit. Dafür verdiente er zweifellos eine harte Strafe, aber derzeit stand Godolphin nicht der Sinn danach, über entsprechende Maßnahmen zu entscheiden. Er beschloß, den richtigen Augenblick abzuwarten. Der Umstand, daß Dowd so umfassende Gewalt angewendet hatte, deutete Oscars Ansicht nach auf eine außerordentlich beunruhigende Entwicklung hin: Bei Dingen, die er bisher für unveränderlich gehalten hatte, begann der Wandel. Macht entglitt den Fingern jener Personen, die sich 195

    gar nicht vorstellen konnten, ohne maßgeblichen Einfluß zu sein, und sie wechselte zu Geschöpfen über, die nicht darauf vorbereitet waren: zu gewöhnlichen Phantomen, zu Boten, Dienern. In diesem Zusammenhang erwies sich das Feuer im Lager der Zigeuner als symptomatisch. Hinzu kam: Die Krankheit hatte gerade erst begonnen, und wenn sie sich in den Domänen ausbreitete, konnte sie niemand mehr aufhalten.
    Godolphin dachte an Aufstände in Vanaeph und L'Himby, an Gerüchte, die eine Rebellion in Yzordderrex ankündigten. Hier in der Fünften Domäne stand nun eine Säuberungsaktion der Tabula Rasa bevor. Gab es einen perfekteren Hintergrund für Dowds Vendetta und ihre blutigen Konsequenzen? Wohin Oscar auch blickte: Überall sah er Zeichen des Zusammenbruchs.
    Der schrecklichste Anhaltspunkt dafür bestand seltsamerweise aus etwas, das man zunächst für Erneuerung halten mochte: Dowd hatte seinem Gesicht eine veränderte Struktur gegeben, damit ihn die anderen Gruppenmitglieder nicht wiedererkennen sollten. Im Lauf von zweihundert Jahren hatte sich dieser Vorgang mehrmals wiederholt, aber Godolphin war noch nie zuvor imstande gewesen, ihn zu beobachten. Als er sich jetzt daran erinnerte, erwachte Argwohn in ihm. Vielleicht hatte ihm Dowd seine gestaltwandlerischen Fähigkeiten ganz bewußt gezeigt, als Mahnung und Hinweis auf eine neue Autorität. Wenn es ihm darum gegangen war, so erzielte er die angestrebte Wirkung.
    Als Oscar sah, wie sich das vertraute Gesicht veränderte und völlig neue Züge annahm, wie sich der Beschworene in eine ganz andere Person zu verwandeln schien... Dieses Spektakel erschütterte ihn zutiefst. Schließlich bot ihm Dowd ein Gesicht dar, in dem Schnurrbart und Brauen fehlten. Der Kopf war schmaler, und das allgemeine Erscheinungsbild entsprach dem eines jüngeren Mannes - vom Typus der Nazis. Offenbar registrierte Dowd den Zweifel und teilte ihn, denn später 196

    bleichte er das Haar und kaufte mehrere neue Anzüge, alle aprikosenfarben und strenger geschnitten als die Kleidung seines früheren Selbst. Er spürte die sich anbahnende Instabilität ebenso deutlich wie Oscar, fühlte die Fäule im Gefüge der Realität - und bereitete sich auf seine Weise vor, mit einer Mischung aus Ernst und Enthaltsamkeit.
    Godolphins Gedanken kehrten zu dem Brand zurück. Gab es ein besseres Mittel als Feuer, das Entzücken der Bücherverbrenner, die Freude der Läuterer? Oscar schauderte, als er sich vorstellte, mit welcher Erbarmungslosigkeit Dowd gehandelt und Dutzende von Unschuldigen getötet hatte, nur um den Mystif zu erwischen. Wahrscheinlich kehrte er bald mit Tränen in den Augen zurück, um laut schluchzend das Leid der Kinder zu beklagen. Doch der Kummer wäre nur gespielt -
    Heuchelei, weiter nichts. Oscar wußte genau: Der Beschworene hatte überhaupt nicht die Fähigkeit, etwas zu bedauern und angesichts des eigenen Verhaltens so etwas wie Reue zu empfinden. Dowd war die Verkörperung von Täuschung und Tücke, und Godolphin begriff,

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