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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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aber aufgrund seiner Schwatzhaftigkeit erinnerte sie sich gut an ihn.
    202

    Jetzt hatte er sich seine Worte sorgfältig zurechtgelegt. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er Judiths Verhalten im Hinblick auf seinen Mandanten für verdammenswert hielt. Ob sie wisse, daß Estabrook inzwischen ins Krankenhaus eingeliefert worden sei? Als Judith antwortete, bisher nichts davon gewußt zu haben, meinte Leader, sein Auftrag bestehe darin, sie zu informieren - obwohl ihr die Sache bestimmt völlig gleich sei.
    Auf Judes Frage hin erklärte der Anwalt folgendes: Früh am Morgen des achtundzwanzigsten Dezember hatte man Estabrook auf der Straße gefunden, mit nur einem Kleidungsstück am Leib. Weitere Einzelheiten nannte Leader nicht.
    »Ist er verletzt?« erkundigte sich Judith.
    »An seinem physischen Zustand gibt es kaum etwas auszusetzen«, erwiderte der Anwalt. »Aber in geistiger Hinsicht steht es mit ihm nicht zum besten. Ich dachte, daß Sie darüber Bescheid wissen sollten, auch wenn mein Klient bestimmt nicht wünscht, daß Sie ihn besuchen.«
    »Mit dieser Einschätzung haben Sie zweifellos recht«, sagte Judith.
    »Er hat es nicht verdient, auf diese Weise behandelt zu werden«, betonte Leader.
    Mit dieser Platitüde beendete er das Gespräch, und Jude fragte sich, warum ›ihre‹ Männer immer verrückt wurden. Erst vor zwei Tagen hatte sie gehört, daß Gentle kurz vor einem Nervenzusammenbruch stünde, und jetzt lag Estabrook im Krankenhaus und bekam dort Beruhigungsmittel. Genügte allein Judiths Präsenz, um sie überschnappen zu lassen, oder lag der Wahnsinn bei ihnen im Blut? Sie dachte daran, Zacharias im Atelier anzurufen, entschied sich aber dagegen.
    Sollte er mit seinem Bild ins Bett steigen - sie wollte nicht mit einem Stück Leinwand um Gentles Aufmerksamkeit konkurrieren.
    Durch Leaders Informationen ergab sich aber eine Gelegenheit für Judith. Solange Estabrook im Krankenhaus 203

    behandelt wurde, konnte sie niemand daran hindern, seinem Haus einen Besuch abzustatten und ihre Garderobe abzuholen.
    Ein angemessenes Projekt für den letzten Tag des Jahres: Sie würde die Überbleibsel ihres Lebens aus der Höhle des Ehemanns holen und sich darauf vorbereiten, das neue Jahr allein zu beginnen.
    2
    Charlie hatte das Schloß nicht ausgetauscht, vielleicht in der Hoffnung, daß Judith eines Nachts zurückkehren und zu ihm ins Bett schlüpfen würde. Trotzdem: Als sie das Haus betrat, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Draußen herrschte graues Zwielicht, und sie schaltete alle Lampen ein, doch die Zimmer schienen der Helligkeit zu widerstehen. Es roch nach verdorbenen Lebensmitteln, und dadurch kam ihr die Luft irgendwie dichter vor. Jude ging in die Küche, um etwas zu trinken, bevor sie ihre Sachen zusammenpackte - und begegnete einem Chaos aus schmutzigen Tellern, auf denen Essensreste verfaulten. Sie öffnete erst das Fenster und dann den Kühlschrank, in dem sie ein ähnliches Durcheinander sah.
    Glücklicherweise enthielt er auch Mineralwasser. Sie füllte ein sauberes Glas und machte sich an die Arbeit.
    Im ersten Stock fand sie ebenfalls Unordnung vor. Offenbar hatte sich Estabrook seit der Trennung gehenlassen: schmutzige Laken auf dem Ehebett, schmutzige Wäsche auf dem Boden. Judith hielt hier vergeblich nach ihren eigenen Sachen Ausschau und fand sie schließlich im Ankleidezimmer, unberührt. Sie wollte den Aufenthalt in diesem Haus auf ein notwendiges Minimum beschränken, holte rasch zwei Koffer und begann damit, sie zu füllen. Auch den Inhalt der Schubladen nahm sie sich vor und verließ anschließend das Schlafzimmer; die Koffer stellte sie an der Eingangstür ab. Ihr Schmuck lag im Safe, und sie hatte ihn noch nie geöffnet -
    obwohl sie wußte, wo Estabrook den Schlüssel aufbewahrte. In 204

    dieser Hinsicht hatte Charlie auf einem strengen Ritual bestanden: Wenn Jude eines ihrer Schmuckstücke tragen wollte, so fragte er erst, welches sie wünschte, holte es dann aus dem Safe und legte es ihr selbst an. In der Erinnerung gelang es Judith mühelos, dieses Gebaren zu deuten: Es lief auf einen Beweis seiner Macht hinaus. Warum wurde ihr das erst jetzt klar? Was hatte sie dazu veranlaßt, so etwas einfach hinzunehmen? War sie so sehr dem Luxus erlegen, daß sie sich mit Passivität begnügte? Grotesk.
    Der Schlüssel lag an seinem Platz, ganz hinten in einer bestimmten Schublade des Schreibtisches. Was den Safe betraf...
    er verbarg sich hinter einem Bild an der Wand des

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