Imagica
sich auch in seinem Gesicht, als er die Tür 209
öffnete. Bei der Party hatte er nicht besonders gut ausgesehen, doch jetzt war er kaum mehr als ein Schatten seiner selbst.
»Was ist los?« fragte er.
»Taylor geht es schlechter, und Clem bat mich dir zu sagen, daß er sich dauernd nach dir erkundigt.« Gentle runzelte die Stirn. Fiel es ihm schwer, sich an Taylor und Clem zu erinnern? »Du mußt dich waschen und anziehen«, fuhr Judith fort. »Hörst du mir zu, Furie?«
Sie nannte ihn immer Furie, wenn sie sich ärgerte, und dieser Trick funktionierte auch jetzt. Angesichts seiner geradezu pathologischen Furcht vor Krankheit hatte sie mit Einwänden gerechnet, doch Gentle blieb stumm. Er wirkte viel zu erschöpft, um zu protestieren; sein Blick wanderte unstet umher, wie auf der Suche nach einem Ort, wo er verharren und ausruhen konnte. Judith folgte Zacharias die Treppe hoch und ins Atelier.
»Ich sollte besser duschen«, sagte er, ließ die Besucherin im Chaos zurück und wankte zum Bad.
Jude hörte fließendes Wasser und stellte fest, daß die Tür des Badezimmers offenstand - es gab keine Körperfunktionen, denen Gentle mit irgendeiner Art von Verlegenheit begegnete.
Mit dieser Haltung hatte er Judith zunächst schockiert, doch nach einer Weile gewöhnte sie sich daran. Was dazu führte, daß sie bei Estabrook die Regeln des Anstands neu erlernen mußte.
»Besorgst du mir bitte ein sauberes Hemd?« rief er. »Und Unterwäsche?«
Einmal mehr kramte Judith in fremden Sachen. Als sie schließlich ein Jeanshemd sowie ausgewaschene Boxershorts entdeckte, stand Gentle vor dem Spiegel im Bad und kämmte sich das feuchte Haar. Sein nackter Leib hatte sich überhaupt nicht verändert. Er war noch immer schlank: Hintern und Bauch fest, die Brust glatt. Einige Sekunden lang betrachtete sie sein schlaffes Glied, das bewies, wie unpassend der Name 210
Gentle war. Im passiven Zustand mangelte es ihm an beeindruckender Größe, aber Judith fand es trotzdem hübsch.
Wenn Zacharias ihre Aufmerksamkeit spürte, so ließ er sich nichts anmerken. Er musterte sich kritisch im Spiegel und schüttelte den Kopf.
»Soll ich mich rasieren?« fragte er.
»Verschwende keine Zeit damit«, erwiderte Jude. »Hier sind die Kleider.«
Er zog sich rasch an und eilte ins Schlafzimmer, um dort nach einem Paar Stiefel zu suchen. Judith blieb im Atelier und bemerkte dort: Jenes Bild, das sie am Weihnachtsabend gesehen hatte, war verschwunden, und Gentles Malwerkzeug -
Farben, Staffelei, die eine oder andere vorbereitete Leinwand -
lagen in einer Ecke. Auf Tisch und Couch fand sie Zeitungen, deren Titelseiten von einer Tragödie berichteten: Einundzwanzig Männer, Frauen und Kinder waren einem Brand im Süden von London zum Opfer gefallen. Jude schenkte den Artikeln keine Beachtung - es gab auch so schon Grund genug, traurig und niedergeschlagen zu sein.
Clem war blaß, aber es glänzten keine Tränen in seinen Augen. Er umarmte Judith und Gentle und führte sie dann ins Haus. Die Weihnachtsdekorationen hingen noch immer an Wänden und Decke und warteten offensichtlich auf den Dreikönigsfeiertag.
»Bevor du zu ihm gehst, Gentle...«, sagte Clem. »Die Arzneien bewirken Benommenheit, und deshalb ist er manchmal nicht ganz bei sich. Er hat deinen Besuch so sehr herbeigesehnt.«
»Warum?« fragte Zacharias.
»Muß er unbedingt einen Grund dafür haben?« erwiderte Clem sanft. »Bitte bleib hier, Judy. Wenn du Taylor sehen möchtest, nachdem Gentle bei ihm gewesen ist...«
»Ja, gern.«
Clem geleitete Gentle zum Schlafzimmer, und Judith ging in 211
die Küche, um Tee zuzubereiten. Plötzlich bereute sie, Zacharias nicht auf ihr Gespräch mit Taylor hingewiesen zu haben, auf seine Beschreibung eines John Furie Zacharias, der in fremden Zungen redete. Andernfalls hätte Gentle jetzt wenigstens geahnt, was der Kranke von ihm brauchte. Am Weihnachtsabend war es Taylor um die Lösung von Rätseln gegangen, und vielleicht hoffte er nun, zumindest vorübergehend von seiner Verwirrung befreit zu werden. Doch Judith zweifelte, ob ihm Gentle Antworten präsentieren konnte.
Im Bad des Ateliers hatte er den Eindruck eines Mannes erweckt, dem bereits sein eigenes Spiegelbild ein Geheimnis war.
Nur Krankheit und Liebe schaffen solche Hitze in Schlafzimmern, dachte Gentle, als Clem ihn durch die Tür schob. Um Leidenschaft oder Ansteckung auszuschwitzen. In beiden Fällen bleiben Mißerfolge nicht aus, aber ein entsprechendes Versagen bei
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