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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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treiben lassen«, erwiderte Gentle.
    Taylor lächelte, und ein Hauch der einstigen Attraktivität kehrte in das eingefallene Gesicht zurück. »O ja«, murmelte er.
    »Auch ich treibe dahin. Besser gesagt: Ich schwebe durchs Zimmer. Einmal bin ich draußen gewesen und habe mich durchs Fenster gesehen. So verlasse ich diese Welt, Gentle: Ich schwebe einfach fort. Clem wird mich vermissen - wir haben die Hälfte unseres Lebens gemeinsam verbracht -, aber du und Judy... Ihr tröstet ihn, nicht wahr? Versucht bitte, ihm alles zu erklären. Sagt ihm, ich sei fortgeschwebt. Er mag es nicht, so etwas von mir zu hören, aber du verstehst mich.«
    »Da bin ich keineswegs sicher.«
    »Du bist Künstler«, meinte Taylor.
    »Ich bin ein Fälscher.«
    »Nicht in meinen Träumen. In meinen Träumen könntest du mich heilen - aber weißt du, was ich dir sage? Ich sage dir, daß ich gar nicht geheilt werden möchte und mich viel zu sehr nach dem Licht sehne.«
    »Das klingt gut«, kommentierte Gentle. »Vielleicht leiste ich dir dort Gesellschaft.«
    »Steht es so schlimm? Erzähl mir davon.«
    »Mein ganzes Leben ist eine Farce, Tay.«
    »Sei nicht so streng mit dir. Im Grunde genommen bist du ein guter Mensch.«
    »Wir wollten uns doch nicht belügen, oder?«
    »Ich lüge nicht. Es ist wirklich alles in Ordnung mit dir. Du brauchst nur jemanden, der dich ab und zu daran erinnert. Das gilt für uns alle. Andernfalls verlieren wir uns.«
    Gentle schloß die Finger etwas fester um Taylors Hand. Tief in seinem Innern wohnte etwas, das er nicht zum Ausdruck bringen konnte, weil ihm Worte und Verständnis fehlten.
    Taylor schüttete vor ihm sein Herz aus, sprach über Liebe und 215

    Träume, beschrieb seinen Tod, und was bot ihm Zacharias dafür an? Bestenfalls nur Verwirrung und Vergessen. Wer von uns beiden ist der Kranke? dachte Gentle. Taylor, schwach und doch imstande, mit dem Herzen zu sprechen? Oder John Furie Zacharias, zwar gesund, aber stumm? Gentle wollte nicht gehen, ohne wenigstens zu versuchen, seine Erlebnisse mit diesem Mann zu teilen, doch wie sollte er sein Empfinden erklären?
    »Ich glaube, ich habe jemanden gefunden«, sagte er.
    »Jemanden, der mir hilft, mich zu... erinnern.«
    »Gut.«
    »Glaubst du?« Gentle flüsterte jetzt nur noch. »In den vergangenen Wochen habe ich seltsame Dinge gesehen. Dinge, die mir selbst jetzt noch absurd erscheinen. Manchmal glaube ich, den Verstand zu verlieren.«
    »Erzähl mir davon«, wiederholte Taylor.
    »In New York hat jemand versucht, Judith umzubringen.«
    »Ich weiß es von ihr selbst. Und weiter?« Der Kranke riß die Augen auf. »Ist er es?«fragte er.
    »Es handelt sich nicht um einen Er.«
    »Judy hat einen Mann erwähnt, wenn ich mich recht entsinne.«
    »Es ist kein Mann«, sagte Gentle. »Auch keine Frau. Nicht einmal ein Mensch.«
    »Was ist es dann?«
    »Wundervoll«, antwortete Gentle. Bisher hatte er es nicht gewagt, ein solches Wort zu benutzen, nicht einmal sich selbst gegenüber. Aber alles andere wäre gelogen, und Lügen waren hier und jetzt verboten. »Deshalb habe ich das Gefühl, allmählich überzuschnappen. Aber wenn du gesehen hättest, wie es sich veränderte... Ein solches Geschöpf kann unmöglich aus dieser Welt stammen.«
    »Wo befindet es sich jetzt?«
    »Ich glaube, es ist tot«, sagte Gentle. »Ich habe zu lange 216

    gewartet, bevor ich mit der Suche danach begann. Ich wollte vergessen, ihm jemals begegnet zu sein - weil ich mich vor den Gefühlen fürchtete, die es in mir weckte. Und als mir das nicht gelang, habe ich versucht, alles auf die Leinwand zu bannen und mich auf diese Weise davon zu befreien. Es klappte nicht.
    Das Etwas blieb in mir. Es gehörte bereits zu mir. Und als ich schließlich aufbrach, um das Wesen zu suchen... Da war es zu spät.«
    »Bist du sicher?« fragte Taylor. Flecken zeigten sich auf seinem Gesicht, während Gentle sprach, und die Züge schienen sich zu verhärten.
    »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    »Ja, ja«, sagte der Kranke. »Ich möchte auch den Rest hören.«
    »Das war's schon. Selbst wenn Pie überlebt hat und irgendwo dort draußen ist - ich kann ihn nicht finden.«
    »Und deshalb läßt du dich treiben? Deshalb möchtest du schweben wie ich? Hoffst du vielleicht...« Taylor unterbrach sich und schnappte nach Luft. »Du solltest besser Clem holen.«
    »Ja, natürlich.«
    Zacharias eilte zur Tür, doch bevor er sie erreichte, erklang erneut Taylors Stimme.
    »Weißt du, Gentle - worin auch immer das

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