Imagica
Geheimnis besteht... Wenn es sich dir enthüllt, mußt du es für uns beide sehen.«
Gentles rechte Hand hatte sich bereits um die Türklinke geschlossen, und es gab allen Grund für ihn, das Zimmer rasch zu verlassen, ohne sich mit einer Antwort zu verpflichten. Aber er entschied sich gegen diese Möglichkeit.
»Ich werde das Rätsel lösen und verstehen«, sagte er und begegnete dabei dem schmerzerfüllten Blick Taylors. »Für mich und auch für dich. Das schwöre ich hiermit.«
Der Kranke lächelte, doch unmittelbar darauf preßte er wieder die Lippen zusammen. Gentle öffnete die Tür und trat 217
in den Flur, wo Clem wartete.
»Er braucht dich«, sagte er.
Clem eilte ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Gentle fühlte sich verbannt und ging nach unten ins Erdgeschoß.
Judith saß am Küchentisch, und ihre Finger betasteten einen Stein.
»Wie geht es ihm?« fragte sie.
»Schlecht«, antwortete Zacharias. »Clem ist jetzt bei ihm.«
»Möchtest du eine Tasse Tee?«
»Nein, danke. Ich brauche in erster Linie frische Luft. Ein kleiner Spaziergang tut mir bestimmt gut.«
Draußen nieselte es, und nach der Hitze im Schlafzimmer hieß Gentle die Kühle willkommen. Er kannte dieses Viertel kaum und beschloß deshalb, in der Nähe des Hauses zu bleiben, aber schon nach kurzer Zeit erlag er der Ruhelosigkeit und wanderte gedankenverloren durch ein Labyrinth aus Straßen. Der Wind trug ihm eine Frische entgegen, die Sehnsucht nach Entkommen weckte. Nein, dies war nicht der geeignete Ort, um Rätsel zu lösen.
Gentle dachte an die vielen Leute, die zur Jahreswende gute Vorsätze faßten und die nächsten zwölf Monate so planten, als sei ihr Leben eine beliebig formbare Knetmasse - er schauderte bei dieser Vorstellung.
Auf dem Rückweg zum Haus erinnerte er sich daran, daß Judith ihn gebeten hatte, Milch und Zigaretten zu kaufen. Er suchte nach einem geöffneten Laden, was recht viel Zeit in Anspruch nahm. Als er schließlich zurückkehrte, parkte ein Krankenwagen am Straßenrand, und die Eingangstür stand offen.
Jude wartete auf der Treppe und starrte in den Nieselregen; Tränen rollten ihr über die Wangen.
»Er ist tot«, sagte sie.
Gentle erstarrte förmlich. Nur ein Meter trennte ihn von Judith. »Wann?« fragte er, als ob das eine Rolle gespielt hätte.
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»Kurz nachdem du gegangen bist.«
Zacharias wollte nicht weinen, während Jude zusah. Etwas in ihm lehnte es ab, gewisse Dinge mit anderen zu teilen.
»Wo ist Clem?« fragte er kühl.
»Oben, im Schlafzimmer. Geh nicht zu ihm. Es sind bereits zu viele Leute oben.«
Judith bemerkte die Zigaretten und griff nach dem Päckchen.
Als ihre Hand Gentles Finger berührte, bildete sich eine empathische Brücke. Zacharias' Selbstbeherrschung zerbröckelte, und von einer Sekunde zur anderen quollen ihm Tränen aus den Augen. Er schlang die Arme um Jude, und sie schluchzten beide, wie Feinde, die einen gemeinsamen Verlust erlitten hatten - oder wie Liebende kurz vor der Trennung.
Oder wie Seelen, die nicht wußten, ob sie sich liebten oder haßten und nun über ihre eigene Verwirrung weinten.
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KAPITEL 16
l
Seit dem Treffen der Tabula Rasa hatte sich Bloxham mehrmals vorgenommen, seine neue Pflicht zu erfüllen und die Bibliothek in den Gewölben des Turms zu überprüfen.
Zweimal verschob er diese Aufgabe unter dem Vorwand, daß er sich um wichtigere Dinge kümmern müsse, vor allem um die Vorbereitung der großen Säuberungsaktion. Unter anderen Umständen wär er dem Keller vielleicht noch länger ferngeblieben, aber Charlotte Feaver - während der Versammlung hatte sie ebenfalls Sorge im Hinblick auf die Sicherheit der Bücher zum Ausdruck gebracht - bot sich an, ihn zu begleiten und bei den Ermittlungen zu helfen. Frauen verwirrten Bloxham. Zwar übten sie einen nicht unerheblichen Reiz auf ihn aus, doch er empfand auch ausgeprägtes Unbehagen in ihrer Nähe. Andererseits: Seit einigen Tagen spürte er ein sexuelles Verlangen, dessen Intensität ihn erstaunte. Nicht einmal sich selbst gegenüber wagte er, sich den Grund dafür einzugestehen: Die Säuberungsaktion erregte ihn, stimulierte den Mann in ihm, und vermutlich reagierte Charlotte auf diese Leidenschaft, obwohl er sie nicht offen zeigte. Er nahm ihr Angebot sofort an, und auf ihren Vorschlag hin trafen sie sich am letzten Abend des Jahres im Turm.
Bloxham brachte eine Flasche Sekt mit.
»Warum sollten wir nicht ein wenig feiern, so wie alle anderen auch?« meinte er,
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