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Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
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Arbeitszimmers. Es zeigte ein mehrere Stockwerke hohes Gebäude, das Judith für eine klassizistische Mißgeburt hielt und das vom Künstler einfach nur ›Zuflucht‹ genannt worden war. Der üppig verzierte Rahmen erwies sich als erstaunlich schwer, doch schließlich gelang es Judith, das Bild von der Wand zu heben und den Safe dahinter zu öffnen.
    Er enthielt zwei Fächer: Im unteren lagen Dokumente, im oberen kleine Päckchen, unter denen Judith ihren Schmuck vermutete. Sie nahm alles heraus, legte es auf den Schreibtisch und spürte dabei, wie sich Neugier in ihr regte. Zwei Päckchen enthielten ihr Eigentum, doch die anderen drei erwiesen sich als noch interessanter: Ein seltsamer Stoff umhüllte sie, noch weicher als Seide; außerdem rochen sie nicht so muffig wie die übrigen Gegenstände - ein fast aromatischer Duft ging von ihnen aus. Jude öffnete das größere Päckchen und fand darin ein Manuskript aus Pergamentpapier, die einzelnen Blätter in seltsamer Stichart zusammengeheftet. Ein Titelblatt fehlte. Auf den ersten Blick hin schien es eine Art anatomische Abhandlung zu sein, aber als Judith genauer hinsah, stellte sie fest, daß dieser Eindruck täuschte. Dies war kein ärztliches Handbuch, sondern eine Anleitung für Liebeshungrige: Die Illustrationen zeigten verschiedene Sexpositionen. Judith 205

    blätterte weiter und hoffte bald, daß der Illustrator irgendwo hinter Schloß und Riegel saß, ohne eine Möglichkeit, seine Fantasie in die Praxis umzusetzen. Dem menschlichen Leib fehlte es an der notwendigen Flexibilität, um nachzuvollziehen, was Tusche auf diesen Seiten festgehalten hatte. Manche Paare waren in Stellungen vereint, die ihnen das Aussehen von miteinander ringenden Tintenfischen verliehen. Andere schienen mit so seltsamen Organen und Körperöffnungen gesegnet (beziehungsweise verflucht) zu sein, daß Judith sie kaum als Menschen erkennen konnte.
    Das Pergamentpapier knisterte unter ihren Fingern, als sie umblätterte. In der Mitte des Manuskripts verharrte sie und betrachtete Darstellungen, die jeweils Doppelseiten beanspruchten und miteinander in Verbindung standen. Das erste Bild präsentierte zwei nackte Gestalten, einen Mann und eine Frau, beide völlig normal. Die Frau lag mit dem Kopf auf einem Kissen, während der Mann zwischen ihren Beinen kniete und sie an der Unterseite des Fußes küßte. Dieser unschuldige Anfang führte zu einer kannibalischen Vereinigung: Der Mann verschlang die Frau, begann mit dem Bein, und seine Partnerin entfaltete eine ähnliche Aktivität. Ein solches Verhalten war natürlich ebenso absurd wie unmöglich, doch der Illustrator hatte es geschafft, den Bildern so etwas wie Plausibilität zu geben, sie wie Anweisungen für einen komplizierten illusionistischen Trick wirken zu lassen. Nach einer Weile schloß Jude das Buch, doch die Szenen hafteten in ihrer Erinnerung und ließen vage Unruhe in ihr entstehen. Sie verbannte sie aus ihrem bewußten Denken und fühlte statt dessen neu erwachenden Zorn. Ihr Ärger galt dem Umstand, daß Estabrook ein solches Werk gekauft und vor ihr versteckt hatte. Ein weiterer Grund, fortan auf seine Gesellschaft zu verzichten.
    Das zweite Paket enthielt ein wesentlich harmloseres Objekt: das etwa faustgroße Fragment einer Statue. An der einen Seite 206

    sah Judith etwas, das ein weinendes Auge sein mochte, vielleicht auch eine Milch absondernde Brustwarze oder eine Knospe, aus der Saft tropfte. Die anderen Seiten machten die Struktur des Steins kenntlich: In dem milchigen Blau zeichneten sich hier und dort dünne Adern ab, meistens schwarz und rot. Es gefiel Jude, diesen Gegenstand in der Hand zu halten, und sie legte ihn nur widerstrebend beiseite, um das dritte Päckchen zu öffnen. Der Inhalt entlockte ihr ein erfreutes Lächeln - sechs erbsengroße Perlen, mit winzigen Schnitzereien verziert. Sie hatte auf diese Weise bearbeitete orientalische Kunstobjekte aus Elfenbein gesehen, aber nur in den Vitrinen von Museen. Vorsichtig nahm sie eine Perle, trat zum Fenster und hielt sie ins Licht. Dank dem Geschick des Künstlers gewann Jude den Eindruck, eine winzige Kugel aus hauchdünnen Seidenfäden zu betrachten. Sie drehte sie hin und her, konzentrierte sich auf die einzelnen Windungen, suchte nach Anfang oder Ende des imaginären Fadens - im Innern der Perle schien ein Geheimnis darauf zu warten, von ihr enthüllt zu werden. Schließlich zwang sich Judith, den Blick von der Perle abzuwenden; sie hatte plötzlich das

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