Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagica

Imagica

Titel: Imagica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
Gefühl, andernfalls einem fremden Willen zu erliegen, so lange den winzigen Gegenstand anstarren zu müssen, bis sie nach vielen Stunden kraftlos zusammenbrechen würde.
    Sie drehte sich zum Schreibtisch um und legte die Perle zu den anderen. Irgend etwas hatte ihr inneres Gleichgewicht erschüttert. Leichte Benommenheit überkam sie, und die Konturen der Umgebung verschwammen mehrmals. Ihre Hände bewegten sich wie eigenständige Wesen, ohne von bewußten Gedanken gesteuert zu werden: Eine ergriff den blauen Stein, während die andere erneut nach der Perle tastete.
    Zwei Souvenirs... Warum nicht? Das Fragment einer Statue und eine Perle. Estabrook hatte einen Killer damit beauftragt, sie umzubringen - wer konnte ihr vorwerfen, ihm etwas zu stehlen? Jude zögerte nicht, steckte beide Objekte in ihre 207

    Handtasche und verstaute die übrigen Gegenstände im Safe.
    Anschließend nahm sie sowohl das Tuch, das den Stein umhüllt hatte, als auch ihren Schmuck, ging zur Eingangstür und schaltete unterwegs das Licht in den einzelnen Zimmern aus. Sie wollte das Haus gerade verlassen, als sie sich an das offene Küchenfenster erinnerte, zurückkehrte und es schloß.
    Während ihrer Abwesenheit sollte niemand einbrechen. Es gab nur einen Dieb, der das Recht hatte, dieses Haus zu betreten -
    sie selbst.
    3
    Judith war zufrieden mit dem am Morgen vollbrachten Werk, gönnte sich ein Glas Wein zum spartanischen Mittagessen und wollte dann ihre Beute auspacken. Als sie sich halb angezogen aufs Bett legte, dachte sie wieder an das sonderbare Buch. Jetzt bedauerte sie, es zurückgelassen zu haben. Es wäre das perfekte Geschenk für Gentle gewesen, der zweifellos glaubte, sich mit allen sexuellen Exzessen auszukennen. Nun, sie nahm sich vor, ihm den Inhalt bei Gelegenheit zu beschreiben, Zacharias mit ihrem guten Gedächtnis für Perversitäten zu verblüffen.
    Ein Anruf von Clem unterbrach sie bei der Arbeit. Er sprach so leise, daß sie die Ohren spitzen mußte, um ihn zu verstehen.
    Die Neuigkeiten waren alles andere als erfreulich: Taylor stand an der Schwelle des Todes - seit zwei Tagen litt er an einer neuerlichen Lungenentzündung. Er lehnte es ab, ins Krankenhaus gebracht zu werden; dort wo er sein Leben verbracht hatte, wollte er sterben.
    »Dauernd fragt er nach Gentle«, sagte Clem. »Ich habe versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber es geht niemand an den Apparat. Weißt du, ob er zu Hause ist?«
    »Keine Ahnung«, erwiderte Judith. »Seit Weihnachten habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen.«
    »Könntest du ihn für mich finden? Besser gesagt: für Taylor.
    208

    Vielleicht hält er sich im Atelier auf und ignoriert das Telefon.
    Ich würde selbst zu ihm fahren, aber ich wage es nicht, das Haus zu verlassen, aus Sorge um Taylor. Es geht ihm viel zu schlecht...« Clem unterbrach sich und schluchzte leise. »Ich...
    möchte hier bei ihm sein, wenn es soweit ist.«
    »Natürlich. Ich suche Gentle und breche sofort auf.«
    »Danke. Ich fürchte, es bleibt nicht mehr viel Zeit, Judy.«
    Sie wählte Gentles Nummer, bevor sie sich auf den Weg machte, aber es nahm niemand ab. Nach zwei Versuchen gab Judith es auf, zog sich an, streifte die Jacke über und eilte nach draußen zum Wagen. Als sie den Autoschlüssel aus der Handtasche holen wollte, ertasteten ihre Finger den Stein und die Perle. Irgendein Aberglaube veranlaßte sie, zu zögern und sich zu fragen, ob es besser wäre, die beiden Gegenstände in die Wohnung zurückzubringen. Aber dem Zeitfaktor kam erhebliche Bedeutung zu. Und außerdem: Solange die Objekte in der Tasche ruhten, konnte sie niemand sehen, oder? Und selbst wenn sie jemand bemerkte - spielte es eine Rolle? Wen kümmerten einige entwendete Dinge, wenn der Tod kam, um sich eine Seele zu holen?
    Judith wußte inzwischen, daß sie von der anderen Straßenseite aus das Atelierfenster sehen konnte, und diese Möglichkeit nutzte sie, als Gentle nicht auf das Klingeln an seiner Tür reagierte. Das Zimmer schien leer zu sein, doch die von der Decke herabhängende nackte Glühbirne brannte. Sie wartete ein oder zwei Minuten lang, und schließlich geriet er in Sicht: ohne Hemd, das Haar zerzaust. Jude holte tief Luft und schrie seinen Namen, doch er schien sie nicht zu hören. Sie versuchte es erneut; diesmal sah er in ihre Richtung und kam ans Fenster.
    »Ich muß mit dir reden!« rief sie. »Es handelt sich um einen Notfall!«
    Gentle wandte sich zögernd vom Fenster ab, und das gleiche Widerstreben zeigte

Weitere Kostenlose Bücher