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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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zwanzig bis dreißig Kilometer. Bis zum Fuß des Gletschers, dem der Fluss entsprang, nicht einmal zehn Kilometer. Dieser unbesiedelte Zwischenbereich war so etwas wie das Purgatorium – die Vorhölle.
    Offenbar kamen trotzdem hin und wieder Männer von der Küste, um nach Nauna zu suchen und ihren Spaß zu haben. Das erklärte wohl auch ihre Vorgehensweise mir gegenüber. Bisher, glaubte ich zu deuten, sei sie allen Jägern entwischt. Die gestenreiche ›Unterhaltung‹, die nötig war, mir diese wenigen Dinge zu erklären, dauerte nach meinem Zeitempfinden fast zwei Stunden.
    Mittlerweile hatte ich meine Haut ebenfalls mit grüner Paste beschmiert, die Nauna in einem kalebassenartigen Gefäß bei sich trug. Das Zeug stank wie die Pest, aber es erfüllte seinen Zweck: Die Mücken ließen mich in Ruhe. Auf meine Frage, woraus die Substanz bestand, glaubte ich aus Naunas Gesten herauszulesen, dass sie tatsächlich Asche und Pflanzensäfte enthielt, doch ebenso eine Flüssigkeit oder ein Sekret, das dem Körper eines Tieres namens quitemeq entstammte …
    Nauna interessierte sich sehr für das, was ich am Körper trug. Alles verwirrte sie, von den Schuhen über mein Unterhemd und den roten Anorak bis zu meinem blonden Haar. Ebenso die wenigen Utensilien, die ich bei mir trug: Kompass, Kugelschreiber, Feuerzeug, Ölkreide, Schneebrille; alles wurde von ihr genau untersucht, vor allem meine Armbanduhr. Am Ende wollte sie wissen, ob ich ein Gesandter der Aqunaki sei.
    Meine Überraschung, aus ihrem Mund einen Begriff aus dem Taaloq zu hören, stand mir ohne Zweifel ins Gesicht geschrieben, und mir fiel nichts Intelligenteres ein, als das von ihr geäußerte Wort nachzuplappern.
    Nauna ging ein paar Schritte am Ufer entlang, bis sie freie Sicht auf die gegenüberliegende Bergkette hatte, deutete diagonal in die Höhe und wiederholte: »Aqunaki!«
    Ich hatte plötzlich ein sehr ungutes Gefühl im Bauch. Fast schon widerwillig erhob ich mich, lief zu Nauna und folgte mit den Augen ihrer ausgestreckten Hand. Die Wolken hingen nicht mehr so tief im Tal wie tags zuvor, und man hatte relativ gute Sicht auf die Berge – und einen steingewordenen Traum.
    Unterhalb der Wolken waren Gebäude an der Steilwand zu erkennen; fensterlose, ineinander verschachtelte Quader, die wie von Geisterhand gestützt an der Bergflanke klebten. Bei ihrem Anblick überkam mich ein kalter Schauer, denn ich wusste nur zu gut, welchem Komplex diese Gebäude angehörten. Was der Nebel an der gegenüberliegenden Bergwand freigegeben hatte, waren die untersten Ausläufer jener von Eis begrabenen Tempelruine, die ich kaum zwei Tage zuvor mit DeFries, Maqi und Talalinqua betreten hatte.
    Staunend lief ich ein paar Schritte auf die Bergflanke zu, mit zusammengekniffenen Augen, als ließen sich in der Ferne die Überreste eines steinzeitlichen Dorfes am Fuß der Felswand erkennen, und der hoch aufragende, obeliskenartige Opferstein, an den ich in meinem Traum gefesselt worden war. Wahrscheinlich wäre ich die drei oder vier Kilometer bis hinüber zur Steilwand weitergelaufen, hätte mich Nauna nicht aufgehalten, ehe ich überhaupt die sanfte Uferböschung erklimmen konnte. Sie krallte ihre Hand in meinen Anorak und zog so heftig daran, dass ich fast das Gleichgewicht verlor. Als ich mich umdrehte, ließ sie blitzschnell los und starrte erst ihre Hand, dann mich aus weit aufgerissenen Augen an. In ihrem Gesicht widerspiegelte sich ein Ausdruck, als sei sie sich soeben ihrer Verwegenheit bewusst geworden, dann schüttelte sie heftig den Kopf, drehte sich wortlos um und rannte davon. Auf der anderen Seite des Flusses blieb sie mit angezogenen Knien am Ufer sitzen und sah verunsichert zu mir herüber.
    Ich wusste nicht, warum sie so reagiert hatte. Einerseits hielt sie mich für einen Gesandten der Aqunaki, andererseits hinderte sie mich daran, ihren Tempeln näher zu kommen. Vielleicht gab es ja außer den Aqunaki noch weitaus mehr, das ihr Angst bereitete.
    Ja, Akademiker – riesige, schwarze, lichtscheue Würmer …
    Meine Blicke pendelten zwischen Nauna und den nebelumhangenen Tempelruinen hin und her. Dann watete ich durch den Fluss zu ihr hinüber und setzte mich neben sie.
    »Leben die Aqunaki dort oben?«, fragte ich und deutete auf die Ruinen. Nauna nickte wortlos, ohne die Frage verstanden zu haben. Es kam mir vor, als schäme sie sich dafür, mich gewaltsam am Weitergehen gehindert zu haben. Offensichtlich fürchtete sie sich vor den Konsequenzen

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