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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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ihrer Kühnheit. Wie bewies man einer grönländischen Frau der Jungsteinzeit, das alles halb so schlimm war? Ihr versöhnlich auf die Schulter klopfen? Ihre Hand drücken? Freundlich grinsen?
    »Nur die Aqunaki?«, hakte ich nach und versuchte, meiner Stimme einen freundlichen, beruhigenden Ton zu verleihen. Unverständliche Konversation schien das Mittel der Wahl zu sein. Nauna blickte fragend. Ich überlegte ein paar Sekunden, dann fragte ich: »Nicht auch Sedmeluq?«
    Nauna zuckte zusammen und sah weg. Dann legte sie die Hände auf ihre Ohren, schloss die Augen und wippte mit dem Oberkörper sanft vor und zurück. Ich atmete durch, lehnte mich zurück, stützte mich auf meine Ellbogen und betrachtete die langsam aus dem Nebel auftauchenden Aqunaki-Ruinen. Anscheinend hatte ich ein Tabu verletzt und ein Wort benutzt, das in dieser Gegend nicht ausgesprochen werden durfte. Gewiss existierte auf der gesamten Insel kein einziges Schriftzeichen, aber die mündliche Überlieferung funktionierte wie in jeder frühen Kultur hervorragend. Nauna war ein Beweis dafür, dass auch die Menschen dieser Zeit sich Geschichten und Legenden erzählten. Womöglich besaßen sie sogar einen Glauben und eine Religion. Letzten Endes war es sogar die des Taaloq …
     
    Während Nauna wie selbstvergessen am Ufer hockte, beschloss ich, mir die Freiheit zu nehmen und eine ihrer Forellen zu grillen. Nauna bemerkte irgendwann, dass ich am Ufer herumschlenderte, unternahm aber nichts, als sie mich mit ihrem Fischkorb sah, sondern blieb an ihrem Platz sitzen.
    Da ich nicht sehr versessen auf arktisches Sushi war, suchte ich ein paar Steinplatten und errichtete einen provisorischen Grill. Anschließend sammelte ich herumliegendes Geäst, trockenes Gras und einige Kräuter. Unter Naunas skeptischem Blick filetierte ich mit einem scharfkantigen Stein eine der armlangen Forellen und breitete die Stücke auf dem Steingrill aus. Dann legte ich die Kräuter dazu, deckte das Ganze mit einer weiteren Steinplatte zu und entzündete schließlich das Feuer. Während der Fisch langsam zwischen den Platten schmorte, ließ Nauna die rauchende Konstruktion nicht aus den Augen. Wahrscheinlich wähnte sie das Ganze als eine Art rituellen Zauber, bei dem ich den Aqunaki Fischopfer darbrachte. Oder sie erwartete schlicht und einfach, dass der Ofen explodierte. Ob sie Feuer kannte, wusste ich nicht. Ich vermutete es jedoch, denn sie blieb gegenüber den Flammen sehr gelassen.
    Als ich allerdings begann, das vermeintliche Götteropfer genüsslich selbst zu verzehren, kam sie verwundert heran und sah mir aus der Nähe dabei zu. Ein ihr angebotenes Stück des gebratenen, köstlich riechenden Fischs lehnte sie naserümpfend ab. Ich hingegen genoss die warme Mahlzeit. Austretender Saft hatte Mineralsalze aus dem Stein gelöst und so das rosefarbene Fleisch gewürzt. Während des Essens bekam ich auch annähernd heraus, warum Nauna mich so energisch am Weiterlaufen gehindert hatte: Deutete ich ihre Gebärdensprache richtig, war die gesamte Talseite jenseits des Flusses tabu. Tabu für Menschen, wohlgemerkt. Der Schmelzwasserstrom bildete die natürliche Grenze zwischen dem Land, das ihnen zugebilligt wurde, und dem Territorium der Aqunaki. Wer die andere Talseite betrat, brach damit ein Gesetz, das so lange bestand wie es Menschen in diesem Land gab.
     
    Naunas Behausung befand sich in einem windgeschützten Kessel unter einem Felsendom aus Granitsäulen. Während die Frau mich unbeirrt auf die Berge zugeführt hatte und die Steilwände immer bedrohlicher vor uns aufragten, hatte ich bereits vermutet, sie bewohne eine Grotte oder werde mich zu einem primitiven Unterschlupf unter Grassoden führen. Doch zu meiner Überraschung erwies sich ihr Heim als großes, von sechs mächtigen gekrümmten Balken gestütztes Rundzelt. Die Zeltwände bestanden aus mehreren Lagen grob vernähter, wind- und wasserfester Felle, und der Ring aus kniehohen Felsen, der das Zelt umgab, besaß einen Durchmesser von beinahe sechs Metern. Wenn man unter der Öffnung stand, die in der Kuppelmitte als Rauchabzug diente, und die archaische Einrichtung mit Schlaflager, Feuerstelle und den Utensilien ihres täglichen Lebens auf sich einwirken ließ, gewann dieser Ort etwas Mystisches, Weihevolles. Das Zelt war alt; weitaus älter als seine Bewohnerin. Es wirkte nicht wie die provisorische Zufluchtsstätte einer Ausgestoßenen, sondern musste hier bereits seit Generationen stehen.
    Womöglich hatte

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