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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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entschlossene wie furchterfüllte Augen. Die Frau bleckte die Zähne und stieß ein drohendes Zischen aus. Gleichzeitig vollführte sie mit dem Speer eine ruckartige Bewegung, die mir unmissverständlich bedeutete, das Gebüsch zu verlassen.
    Ich rutschte auf dem Hosenboden ins Freie und hielt dabei meine Hände leicht erhoben, um der Frau zu zeigen, dass sie nichts zu befürchten hatte. Als ich jedoch aufstand und sie um mehr als einen Kopf überragte, verstärkte sich der Ausdruck aus Angst und Wut in ihren Augen. Sie trat einen weiteren Schritt zurück und zischte wieder durch die Zähne. In meinem Kopf hingegen begannen sich Puzzleteile zu einem Bild zusammenzufügen; das grüne Tal, der verzerrte Sternenhimmel, die Tatsache, dass die Mitternachtssonne nicht mehr am Himmel stand, das für arktische Verhältnisse milde Klima, die Frau, ihre steinzeitliche Ausrüstung und Kleidung …
    Es gab nur ein Zeitalter, mit dem sich all diese Aspekte verknüpfen ließen: das Atlantikum, jene Wärmeperiode, die nach der letzten Eiszeit für zwei Jahrtausende die nördliche Hemisphäre beherrscht hatte. Sollte es mich tatsächlich dahin verschlagen haben, befand ich mich in einer Zeit zwischen Sechstausend und Viertausend vor Christus. Das würde bedeuten, dass dieses Land weitaus früher als angenommen von Menschen besiedelt worden war; zu jener Zeit, als die Meerengen zwischen Nordamerika und Grönland noch zugefroren waren und einen Fußmarsch über den eisbedeckten Smithsund oder die Davisstraße ermöglicht hatten.
    Aber diese Frau …
    Ihre Kleidung und ihre Physiognomie ließen mich vermuten, dass ich ein Paläo-Eskimomädchen vor mir hatte. Aber was trieb sie hier im Inland, fernab vom natürlichen Lebensraum ihres Volkes? Mit Sicherheit war sie nie zuvor einem Menschen von meiner Statur und Hautfarbe begegnet. Besonders meine Kleidung schien sie zu verunsichern, was sie mir im nächsten Moment auch deutlich machte. »Uvai!« befahl sie mit scharfer Stimme. Als ich nicht reagierte, trat sie einen Schritt vor und hieb mit dem Speer gegen meinen Anorak. »Uvai!«
    Ich vermutete, dass ich die Jacke ausziehen sollte. Langsam, ohne hektische Bewegungen, schlüpfte ich aus dem Anorak und ließ ihn vor mir auf den Boden fallen. Als ich eine Weile ratlos da stand, erhielt ich erneut einen ungeduldigen Hieb mit dem Speer, diesmal gegen den Oberschenkel.
    »Sa uvaia!«
    Ich sah an mir herab. »Alles?«
    Die Speerspitze hob sich und zielte auf meine Kehle, ein deutliches Signal, dass die Frau es ernst meinte und womöglich auch nicht zögern würde, zuzustoßen. Ich zuckte zurück, atmete tief durch und begann, mich langsam auszuziehen; beginnend mit den Schuhen, dann beide Pullover, die Hose … Als ich schließlich splitternackt und frierend vor ihr stand, betrachtete sie mich eine Weile aufmerksam und mit finsterer Miene. Dann geschah etwas Sonderbares: Die Frau ließ auf einmal ihren Speer sinken. Abwechselnd sah sie mir in die Augen und musterte die beiden Talismane um meinen Hals, wobei der Ausdruck in ihrem Gesicht sich verändert hatte. Ihre Augen blickten immer noch misstrauisch, aber – anders.
    Ich starrte die Frau an, versuchte unter der Maske aus Asche und Pflanzensaft ihr wahres Gesicht zu erkennen. Sie sagte etwas zu mir, das wie eine Frage klang und scheinbar auf die Talismane bezogen war. Ich verstand sie nicht, zuckte daher die Schultern und schüttelte den Kopf. Sie kniff die Augen zusammen, und ich erkannte, dass sie die Geste nicht verstand oder zumindest missinterpretierte. Robinson trifft Freitag, ging es mir durch den Sinn. Die Frau lief prüfend um mich herum und berührte flüchtig meine Schulterblätter. Als sie wieder in mein Blickfeld kam, wirkte sie beunruhigt und verwirrt. Sie strich mit zwei Fingern über ihren nackten Unterarm und deutete dann auf mich. Ich glaubte zu verstehen, dass sie sich über den dunklen Teint meiner Haut wunderte. Mein Aufenthalt in Mali war schon etliche Wochen her, aber die Bräune war noch deutlich sichtbar. Zwar war auch der Rest meines Körpers gebräunter als der ihre, doch meine verschiedenen Hauttöne mussten auf sie recht exotisch wirken.
    »Darf ich mich wieder anziehen?«, fragte ich. Die Frau zuckte beim Klang meiner Stimme leicht zusammen. Um ihr zu verdeutlichen, was ich meinte, rieb ich meine Arme und deutete dann auf meine Kleidung. »Ich friere!«
    Sie betrachtete den Anorak, stach leicht mit dem Speer in den Stoff und katapultierte die Schneejacke damit

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