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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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entschlossen, mich während dieser Andachten vor dem Zelt herumzudrücken. Es war mir unangenehm gewesen, Nauna bei dieser persönlichen Angelegenheit Gesellschaft zu leisten. Teile ihrer Zeremonien begleitete sie mit dezentem Trommelgesang und jenem charakteristischen rhythmischen Hecheln und Keuchen, dass ich von Talalinquas Sonnenanbetungsritual kannte. Dabei fiel auffällig oft ein Wort, das ich nicht zuordnen konnte: paapeqta.
    Als Nauna am Morgen wiederkam, wirkte sie verängstigt, fast schon verstört. Sie redete kaum, sah erschöpft aus und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Während sie gierig etwas zu essen in sich hereinschlang, huschte ihr Blick rastlos umher, als verfolge sie mit den Augen unentwegt Dinge, die niemand sonst zu sehen vermochte. Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatte, legte sie sich ohne ein weiteres Wort schlafen. Der Beutel, den sie mitgenommen hatte, war leer.
     
    Am neunten Tag entdeckte ich den Knochengraben. Er lag nur einen Steinwurf vom Zelt entfernt, war aber erst als solcher zu erkennen, wenn man unmittelbar vor ihm stand. ›Entdecken‹ ist vielleicht das falsche Wort. Ich hatte Nauna beobachtet, wie sie Fischgräten und die abgenagten Knochen zweier Erdhörnchen, die wir am Vortag verzehrt hatten, in einem geflochtenen Beutel gesammelt und entsorgt hatte. Als sie mit dem leeren Korb zurückkam, schlenderte ich neugierig in jene Richtung und fand eine langgezogene, mit Tausenden von Knochen gefüllte Senke. Ein Massengrab. Beinahe jede Art der hiesigen Fauna war durch Skelette vertreten: Schneeeulen, Hasen, Füchse, Erdhörnchen, Moschusochsen, Lemminge, Fische … Nauna musste hier seit Jahren ihre Tierabfalle entsorgt haben. Die Anzahl der Knochen ließ jedoch vermuten, dass vor ihr schon andere diese Grube genutzt hatten. Es waren einfach zu viele Skelette.
    Manche der Tierschädel konnte ich auf den ersten Blick nicht zuordnen und stieg daher in den Graben hinab. Es dauerte nicht lange, und Nauna tauchte am Rand der Senke auf. Sie setzte sich auf einen nahen Felsen und widmete sich einem Speer, an dem sie bereits seit ein paar Stunden arbeitete. Dabei sah sie immer wieder zu mir hinunter und beobachtete mich dabei, wie ich in der Grube umherstreifte, einzelne Schädel auflas und diese akribisch untersuchte. Mein offensichtliches Interesse für abgenagte Knochen schien sie zu verwundern, aber auch zu amüsieren.
    »Amek sauiqa?«, rief sie irgendwann zu mir herab, nachdem ich minutenlang nach dem passenden Unterkiefer eines fremdartigen Nagetierschädels gesucht hatte und – als ich glaubte, ihn gefunden zu haben – beide Knochenteile prüfend auf- und zuklappen ließ.
    Ich sah Nauna fragend an. Sie ließ den Speer sinken, hob einen kleinen Knochen neben sich auf und hielt ihn hoch. »Sauiq!«, erklärte sie.
    »Ein Knochen?«, riet ich. »Meinst du das?«
    Nauna runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern. »Pea tupaq«, sagte sie, machte mir der Hand eine Geste, die alle verstreuten Gebeine mit einschloss, und warf den Knochen fort. Dann fragte sie noch einmal: »Amek sauiqa?«
    Ich legte den Schädel zu jenen, die ich bereits sorgsam nebeneinander aufgereiht hatte, kletterte hinauf zu Nauna und setzte mich seufzend neben sie. Als sie mein verständnisloses Gesicht sah, verzog sie ergeben die Lippen, und jeder von uns schien in diesem Augenblick das Gleiche zu denken.
    Es war kaum vorhersehbar, wie lange ich mich noch in dieser Welt aufhalten und ob ich je eine Möglichkeit finden würde, wieder in meine Zeit zurückzukehren. Mich umgab eine unbekannte Wildnis, in der eine falsche Entscheidung, ein unbedachter Schritt oder eine unüberlegte Handlung verhängnisvolle Folgen haben konnten. Ob es mir passte oder nicht, aber ich war momentan auf Nauna und ihre Lebenserfahrung in dieser Welt angewiesen. Ich wusste nicht, was für Menschen und Tiere allein dieses Tal bevölkerten und wie man sich ihnen gegenüber zu verhalten hatte. Bereits Naunas Schilderung von sporadisch auftauchenden Jägern aus den Küstendörfern mahnte zu Wachsamkeit. Mit leiser Sorge musste ich auch an die bizarren Klauenabdrücke am Ufer des Bergsees denken … und an den riesigen, wurm- oder schneckenartigen Schatten, den ich nach meinem Erwachen erblickt hatte. Bestimmt gab es für beides eine simple, natürliche Erklärung, doch Naunas Angst vor der anderen Seite des Tals und den Aqunaki-Ruinen verstärkten die unterschwellige Bedrohung, die ich empfand, nur noch. Ich musste erfahren, ob

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