Imagon
ihre Angst berechtigt war und was sie über die Aqunaki wusste. Möglicherweise lebte dort oben in den nebelverhangenen Bergen etwas, von dem nichts in den Archäologiebüchern verzeichnet war …
Vielleicht blieb ich nur für ein paar Tage in dieser Zeit gestrandet, vielleicht für ein paar Wochen, vielleicht aber auch für den Rest meines Lebens. Was auch immer eintreffen mochte, eines war sicher: Einer von uns beiden musste die Sprache des anderen lernen, damit wir uns untereinander verständigen konnten. Es wurde höchste Zeit für einen Crashkurs!
Ich sah in Naunas große, ratlose Augen. Dann hob ich meinerseits einen Knochen auf und sagte: »Sauiq.« Die Frau nickte, und ein flüchtiges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. Vermutlich war meine Aussprache mehr als miserabel. Ich hob einen zweiten Kochen auf und hielt beide nebeneinander.
»Qari sauiqa«, erklärte Nauna, wobei sie Zeige und Mittelfinger gespreizt hielt wie ein Siegeszeichen. Sie machte noch einmal diese weitschweifende Geste über die Gebeine und sagte: »Amisut sauiqa.«
»Viele Knochen«, deutete ich.
Ein unentschlossenes Nicken. »Amek sauiqa?«, wiederholte Nauna geduldig. Sie deutete dabei auf meine Brust, dann auf meinen Kopf und schließlich in die Knochengrube.
Ich vermutete, dass sie wissen wollte, ob ich mich für Tierknochen und Skelette interessiere. Da es mir unmöglich war, ihr die Gründe meines für sie rätselhaften Forschungstriebs zu erklären, beließ ich es bei einem Nicken. Nauna runzelte wieder die Stirn, und eine Art aufgeregtes Funkeln gesellte sich in ihren Blick. Ich musste schlucken und hoffte inständig, dass sie mich nicht falsch verstanden hatte und es in Wirklichkeit um etwas ganz anderes ging.
»To mala sauiqa?«, fragte sie.
»Mala?«
Nauna machte mit beiden Händen eine Geste, die etwas Enormes verdeutlichen sollte. »Mala!«
»Große Knochen?!«
Die Frau nickte hoffnungsvoll, dann deutete sie hinauf zum Gletscher am oberen Ende des Tals. »Amisut mala sauiqa!«
Viele große Knochen. Ich sah Nauna an. Was um alles in der Welt meinte sie damit? Einen Friedhof? Eine Weile versuchte ich das Rätsel durch Zeichensprache zu lösen, doch statt es mir zu erklären, stand Nauna plötzlich auf und zog mich an der Hand hinter sich her – ins Zelt! Ich sträubte mich einen Moment, aber Nauna bestand darauf, ihr zu folgen. Eventuell, so schoss es mir durch den Kopf, ging es ja doch um etwas völlig anderes als um große Knochen …
Nauna begann hektisch, mehrere Lederschnüre von einem der gebogenen Pfeiler, die das Zelt stützten, zu lösen, dann zog sie eines der umhüllenden Felle ab. Ich starrte sekundenlang an, was sie entblößt hatte, ohne sofort zu begreifen, was ich sah. Auf meinem Weg durchs Tal hatte ich lichte Zwergwälder durchquert; kniehohe Haine aus Birken und Weiden. Kaum einer der Bäume war jedoch höher gewesen als einen Meter. Ich hatte vermutet, dass Nauna mehrere ihrer dünnen Stämme miteinander verflochten und so die erforderliche Länge und Dicke der Stützpfeiler geschaffen hatte. Was ich jedoch sah, glich einem einzigen, am Boden fast oberschenkeldicken Stamm aus sehr hellem Holz. Dann erkannte ich bei genauem Hinsehen seine leicht poröse Oberfläche und hielt ihn fälschlicherweise für den Unterkiefer eines Grönlandwals, ehe mir einfiel, dass die Küste über dreißig Kilometer entfernt lag.
Mala sauiqa …
Als ich niederkniete und mit der Hand über das Material strich, ahnte ich, was Nauna am Fuß des Gletschers gefunden haben musste. Die Pfeiler waren keinesfalls aus Holz und auch nur im entfernteren Sinne große Knochen; sie bestanden aus Elfenbein.
Es waren riesige Mammut-Stoßzähne.
Kalak trug sowohl Nauna als auch mich mühelos auf seinem Rücken. Der gewaltige Moschusochse fand seinen Weg durch das teils sumpfige, teils von Geröll übersäte Tal von selbst, wobei er sich dicht am Flussufer hielt, um die zumeist von faulenden Algen und Wasserflöhen bedeckten Tümpel zu umgehen. Die einzigen Schädel und Knochen, an denen wir auf den ersten Kilometern vorbeiritten, waren jedoch die seiner verendeten Artgenossen.
Auf dem Weg zum Gletscher brachte mir Nauna ein paar Begriffe aus ihrer Sprache bei, vornehmlich Wortbedeutungen aus ihrer alltäglichen Umwelt. So nannte sie die Sonne siqiniq, den Mond tarqiq, die Wolken nuvujaqs oder das Tal kuuruq. Uppikarniq war ein Wasserfall, imiq das Wasser, anuri der Wind und tatsiq der Nebel. Den sumpfigen, morastigen Boden
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