Imagon
nannte sie nukeaq. Ich persönlich war eine kunuina – eine Langnase. Dann gab es noch ein Wort namens kallupilluk. Es bedeutete: Monster.
Nauna erinnerte mich während des gesamten Rittes zunehmend an Hansen und unseren Helikopterflug über die Fjorde. Sie deutete auf Felsformationen, Wasserfälle und Bergspitzen und nannte mir ihre Namen. Dabei ließ sie zu, dass ich mich an ihren Hüften festhielt, um bei Kalaks schaukelndem Gang durch den Morast nicht vom Rücken des Tieres zu rutschen. Ob sie diese Vorsichtsmaßnahme nur für zweckmäßig hielt oder auch als angenehm empfand, ließ sie mich nicht erkennen.
Einen halben Kilometer vor dem Gletscher stießen wir endlich auf das erste Mammutskelett. Genauer gesagt: Auf ein Feld verstreuter Knochen und einen zerschmetterten Schädel. Hier und dort fanden sich Reste verwehten Fells im niederen Gesträuch; verfilzte graubraune Büschel und einzelne lange Haare, die sich zwischen den Händen zu feinem Pulver zerreiben ließen. Es musste ein sehr junges Mammut gewesen sein, wie ich anhand der Größe der Knochen zu erkennen glaubte.
Die Mammutgebeine markierten gleichzeitig die Grenze, ab der Kalak sich weigerte, weiterzulaufen. Nervös stand das Tier wie vor einer unsichtbaren Barriere, schnaubte unruhig und scharrte mit den Vorderklauen im sumpfigen Boden. Nauna sah über ihre Schulter und bedachte mich mit einem Blick, der soviel bedeuten konnte wie: Na, überzeugt?
Wir ließen uns vom Rücken unseres Reittiers gleiten und gingen die letzten paar hundert Meter zu Fuß. Ehe wir die Gletscherzunge erreichten, fanden wir zwei weitere Skelette. Sie waren umso besser erhalten, je näher sie an der Eisgrenze lagen, doch trotz des arktischen Klimas hatten die allgegenwärtigen Pseudomonas-Bakterien im Laufe der Jahrzehnte ganze Arbeit geleistet. Von den mächtigen Tieren war kaum mehr übrig als Fell und Knochen. Und noch etwas ließen sie vermissen: ihre Stoßzähne. Jene Einsiedler, die das Zelt vor Nauna bewohnt hatten, mussten jeden einzelnen von hier aus das Tal hinabtransportiert haben. Aber bis jetzt waren es nur zwei Schädel, die massig genug waren, um zu den riesigen Stoßzähnen von Naunas Zelt zu passen; ein Schädel zu wenig. Meine Erregung wuchs bei der Vorstellung, was mich noch erwarten würde. Ich wünschte mir in diesem Moment nichts sehnlicher als eine Kamera, um all das festhalten zu können, was mich umgab.
Die Knochen, die wir auf dem Weg zur Eiskante gefunden hatten, waren nichts im Gegensatz zu dem, was die Gletscherzunge an Überraschungen bereit hielt. Zwar war erwiesen, dass Mammuts nicht in großen Herden umhergezogen waren, doch es genügte eine tückische, schneebedeckte Gletscherspalte, um Jahr für Jahr Dutzenden unglücklicher Tiere zum Verhängnis zu werden. Vier nahezu vollständig erhaltene Alttier-Kadaver ruhten – noch größtenteils im Eis gefangen – am Rand der Gletscherzunge. Dahinter ließen sich weitere Körper erahnen. Der wandernde Gletscher und sein enormes Gewicht hatten die Leiber zu grotesken Klumpen zerdrückt. Doch diese besaßen Gesichter; verschobene Mäuler, bizarr ausgestreckte Gliedmaßen und aufgerissene Augen, die mich durch das Eis anstarrten.
Während ich auf der Suche nach weiteren eingeschlossenen Kadavern an der Gletscherzunge entlang schlenderte, machte ich eine Entdeckung, die meinen Enthusiasmus augenblicklich erstickte. In unmittelbarer Nähe des Gletschermundes stieß ich unversehens auf einen jener x-förmigen Klauenabdrücke, die zahllos das Ufer des Bergsees bedeckt hatten. Er war nicht besonders deutlich zu erkennen, da der Boden im Gegensatz zum Seeufer mit niederer Vegetation bedeckt war, aber immerhin deutlich genug, um ihn als solchen zu identifizieren. Als ich mich daraufhin genauer umsah, fand ich unzählige von Abdrücken im sumpfigen Boden. Und wie schon am Seeufer wirkten die Spuren, als seien sie kaum älter als ein paar Tage oder gar Stunden.
Konzentriert studierte ich den mächtigen Eishang und die halbmondförmige Öffnung des Gletschermundes, durch den sich der Schmelzwasserfluss Bahn brach. Ein flaues Gefühl überkam mich bei seinem Anblick, da ich unweigerlich an die Internet-Berichte über jene Höhle im Weitershausengletscher denken musste. Obwohl die gesamte Umgebung vom Rauschen des Wassers erfüllt war, bildete ich mir ein, dass nicht das leiseste Geräusch zu hören gewesen wäre, wenn es den Fluss nicht gegeben hätte. Sein Tosen täuschte das Leben nur vor.
Nauna, die
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