Imagon
hatte ihm das rechte Vorderknie zerschmettert. Nauna hatte ihn gesundgepflegt und gefüttert, was zur Folge hatte, dass Anaq kaum noch von ihrer Seite wich.
Der Beutel über Naunas Schulter war ein Trinkschlauch aus gegerbtem Leder, prall gefüllt mit dicker, lauwarmer Milch. Ich hatte nie zuvor gehört, dass man Moschuskühe melken kann. Noch ungewöhnlicher erschien es mir, dass Urai, von der Nauna zufolge die Milch stammte, die Frau überhaupt an sich heranließ. Tragende Tiere dieser Gattung gelten als recht scheu, und im Notfall auch als angriffslustig.
»Ich würde mich gerne waschen«, erklärte ich, nachdem ich mich an der Milch sattgetrunken hatte. Meine Hoffnung war, dass ein Bach in der Nähe floß, den Nauna ebenfalls zu Hygienezwecken benutzte und aus dem sie ihr Trinkwasser schöpfte. Um zu verdeutlichen, worum es mir ging, machte ich eine Gebärde, als ob ich mir das Gesicht wusch.
Nauna nickte und deutete hinauf zur Felswand. »Sa ivi uppikarniq!«
Es gab tatsächlich einen Bach in der Nähe des Zeltes, etwa vierzig Meter talaufwärts gelegen. Nauna führte mich jedoch weiter bergan bis zu einem schmalen, klammartigen Bergeinschnitt, aus dem ein leises Rauschen zu hören war. Kurze Zeit später standen wir vor einem kleinen Wasserfall, dessen Felsen unter dichtem Moos nur noch zu erahnen waren.
Nauna blieb zuerst abwartend in der Nähe stehen, bis sie zu bemerken schien, dass ich mich aus für sie unerfindlichen Gründen gehemmt fühlte, vor ihr unter eiskaltem Schmelzwasser nackt zu duschen. Sie schlenderte wieder zum Ausgang der Klamm, wobei sie ab und an einen Blick zurückwarf.
Hätte mich in den folgenden Minuten ein Psychologe beim Duschen beobachtet, hätte er wohl die Bezeichnung ›auto-aggressiv‹ in seinem Notizbuch vermerkt. Das Wasser war so kalt, dass ich mich mehr prügelte als wusch. Alles für die Katz!, ging es mir dabei durch den Kopf. Spätestens in einer Stunde, wenn die Mücken kamen, würde ich wieder aussehen wie ein rußverschmierter Marsianer. In einem Anfall von Masochismus begann ich trotzdem, alle Kleidungsstücke außer meiner Hose zu waschen, um endlich den Gestank von Schweiß, Erde und Tierkot herauszukriegen. Den Anorak hatte ich leider im Zelt gelassen. Nur in meiner Hose und mit einem Bündel ausgewrungener Kleider in der Hand, verließ ich die Klamm. Nauna hockte in der Nähe und schlürfte genüsslich ein Vogelei aus, von denen sie zwischenzeitlich vier gesammelt hatte. Es waren Eier von Eiderenten, doppelt so groß wie Hühnereier. Sie bot mir zwei davon an. Ich nahm sie mit, um sie in der Glut des Feuers zu backen.
Diesmal ließ sich Nauna dazu herab, davon zu probieren. Vielleicht hatte sie bereits heimlich von dem gerösteten Fisch gekostet, den sie mir zubereitet hatte. Jedenfalls kaute sie sehr vorsichtig, fast analysierend, und machte dabei ein recht komisches Gesicht.
Wir trugen mittlerweile beide wieder unsere mückenabweisende Kriegsbemalung. Nauna nannte die Paste Iqa. Die Sonne hatte die Luft angenehm erwärmt und sorgte für erste Moskito-Patrouillenflüge. Ich hatte meine Kleidung vor dem Zelt zum Trocken aufgehängt, was mir etwa drei Dutzend Stiche beschert hatte. Nauna hatte keine Hemmungen gezeigt, ihre Kleidung in meiner Anwesenheit abzulegen und sich mit dem Extrakt einzuschmieren. Nun saßen wir graugrün gefärbt und halb nackt vor dem Feuer und aßen gebackene Enteneier.
Während der folgenden fünf Tage lernte ich Naunas Leben und ihren normalen Tagesablauf kennen. Sie zeigte mir Pflanzen und Blüten, die essbar waren, brachte mir bei, einen Speer herzustellen, der nicht sofort nach dem ersten Wurf auseinander fiel, und führte mich zu den einzelnen Tierfallen, die sie aufgestellt hatte, um Hasen, Lemminge oder Erdhörnchen zu fangen. Letztere nannte sie – abgeleitet vom Ruf der kleinen Pelzer – Siksik. Bei den Fallen handelte es sich um einfache, aber effektive Steinkonstruktionen, in denen die Tiere durch ausgelegte Köder in einen niederen Tunnel gelockt wurden, um anschließend in eine Fallgrube zu stürzten. Aus dieser brauchte Nauna sie dann nur noch herauszusammeln.
Es lebten mehrere tragende Moschuskühe im Tal. Sie zu melken war eine Kunst, die aus Einfühlungsvermögen, Präzision und Geduld bestand und nur funktionierte, weil sich die Tiere im Laufe der Jahre an Nauna gewöhnt hatten und die Bullen sie an die Kühe heranließen. Da es keine Eimer oder Schüsseln gab, musste der Zitzenstrahl mit einem großen,
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