Imagon
Boden geschaut hatte, fasste ich mir schließlich ein Herz und erzählte ihr meine Geschichte. Zumindest soviel, wie ich glaubte, ihr erzählen zu müssen. Dass ich aus einer fernen Zukunft stammte, dass das Tal und die Aqunaki-Tempel zu meiner Zeit von gewaltigen Eismassen begraben waren und nur durch ›Zufall‹ entdeckt worden seien. Ich erzählte ihr von unserem Eindringen in die Ruinen, vom Auffinden der riesigen Kaverne tief im Inneren des Tana und dem schwarzen Etwas in der Grube, das mich in die Finsternis gerissen hatte – und von meinem Erwachen in dieser Welt und dem Schatten des Wurmes auf der Klippe …
Dass ich es war, der ihr diese Geschichten erzählte, bescherte Nauna einen schmerzvollen Konflikt. Womöglich täuschte ich mich, aber irgendetwas in mir raunte, dass Nauna in der Lage war, meine Worte in Bilder umzusetzen. Sie schien sich nach einem Versteck zu sehnen, nach einem Ort, an dem man nichts mehr sehen, hören und fühlen musste. Ein Versteck, das ihr Schutz bot – nicht allein vor der Wahrheit und den Geschichten, die ich ihr erzählt hatte, sondern vor allem vor der Erinnerung. Ihrer Erinnerung.
»Ti kalaaqa Sedmeluq«, murmelte Nauna irgendwann tonlos, nachdem sie lange hinauf zu den nebelverhangenen Berggipfeln geblickt hatte. »Tia na qullugiaqs meqoa tarsaqs …«
Ich hatte mittlerweile genug von ihrer Sprache gelernt, um die Worte zu verstehen. Es sind die Kinder Sedmeluqs, hatte Nauna gesagt. Die Larven ohne wahre Zeichen. Doch ob sie damit die Aqunaki meinte oder jene riesigen schwarzen Würmer, blieb mir vorerst ein Rätsel.
Vielleicht war es paranoid, so zu denken, aber das halbwegs idyllische Leben mit Nauna kam mir vor wie die Ruhe vor einem alles vernichtenden Sturm. Tief in mir spürte ich, dass bald etwas geschehen würde. Dass etwas geschehen musste! Die Ungewissheit darüber, was mich – oder uns – erwartete, erfüllte mich täglich mit größerer Sorge.
Nachdem Nauna fast die gesamte Nacht wach geblieben war und vor sich hingebrütet hatte, bedeutete sie mir am darauf folgenden Morgen, sie beim kommenden Vollmond zu einem Ort zu begleiten, den sie paapeqta nannte und vor dem sie sich ebenso zu fürchten schien wie vor den Aqunaki-Ruinen. Zu meiner Überraschung besagten ihre Erklärungen, dass paapeqta auf der gegenüberliegenden Talseite lag, unmittelbar unterhalb der Felstempel. Obwohl Nauna sich bemühte, mir den Ort durch Gesten und Zeichensprache zu beschreiben, begriff ich nicht, ob es sich dabei um eine verlassene Siedlung, eine besondere geologische Formation oder eine Art Naturwunder handelte. In erster Linie schien es ein recht verwunschener Flecken Erde zu sein, der Nauna gehörig Angst einjagte. Offenbar hatte sie sich jedoch nie näher als ein paar hundert Meter an paapeqta herangewagt, da sie befürchtete, von ihm gefressen oder verschlungen zu werden, falls er erwachen sollte – dabei machte sie eine Geste, als stecke sie sich etwas in den Mund. Aus irgendeinem Grund schien sich paapeqta also bewegen zu können. Was mir Nauna gestikulierend zu vermitteln versuchte, war ihre Angst davor, dass paapeqta auf diese Seite des Tals wandern könnte. DeFries’ Erzählung von einem mystischen, blutenden Mühlstein, der unzählige menschliche Gebeine zermahlen soll, fiel mir dabei wieder ein. Was auch immer paapeqta war, es hatte jedenfalls meine Neugier geweckt. Als ich einwilligte, Nauna zu begleiten und sie mir erklärte, dass wir einen ganzen Tag unterwegs sein würden, musterte sie mich fast lauernd. In ihrem Gesicht war abzulesen, dass sie rätselte, ob ihr Angebot an mich, sie zu begleiten, eine gute oder schlechte Idee gewesen war.
Zwei Tage vor Vollmond jedoch passierte das, was nicht hätte passieren dürfen: Nauna wurde krank.
Eben noch bei Kräften, hatte sie unvermittelt Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Ihr sonst so offenes Lächeln war plötzlich wie ausgelöscht, und jede Bewegung schien ihr schwer zu fallen. Sie stolperte beim Laufen, und ihre Haut war bleich geworden und wirkte wächsern. Ich beobachtete ihren körperlichen Verfall voll Entsetzen, wollte aber das Offensichtliche zu Beginn nicht wahrhaben. Immer öfter unterbrach Nauna ihre Arbeit, setzte sich nieder und starrte apathisch vor sich hin. Eine Weile kämpfte sie gegen die Symptome an, doch innerhalb kürzester Zeit war sie kaum mehr in der Lage, sich allein auf den Beinen zu halten. Während ich an mir weiterhin keine Anzeichen für eine Erkältung feststellte,
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