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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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bewegte sich auf mindestens vieren voran, wenn nicht gar …
    Während ich trotz der lausigen Kälte zu schwitzen begann, hörte ich über mir erneut das Schlagen von Flügeln, und bald darauf landeten in kurzen Abständen zwei weitere dieser Geschöpfe, diesmal hinter mir und etwas weiter entfernt. Zugleich erklang wenige Meter jenseits meines Lagers ein abgehacktes, melodisches Summen. Dann verdunkelte ein monströser Schatten den Sternenhimmel, als jenes Geschöpf, das zuerst gelandet war, neben meinem Zeltring auftauchte. Dort hielt es inne, möglicherweise um mich zu betrachten, und schritt schließlich vorüber. Ich schreibe ›möglicherweise‹, denn das, was ich für ein paar Sekunden im Licht der Sterne erblickt hatte, hatte weder Augen besessen noch einen Kopf.
    Als mir bewusst wurde, was ich soeben gesehen hatte, wäre ich am liebsten aufgesprungen und laut schreiend davongerannt. Doch dann musste ich an Nauna denken, und an die Aufforderung des Aqunaki vor ihrem Zelt. Der Konflikt, einerseits diesen geflügelten Ungeheuern zu entfliehen, andererseits das soeben Erlebte als irreal abzutun und der Frau beizustehen, raubte mir fast den Verstand. Ich hatte meine vor der Brust angewinkelten Hände zu Fäusten geballt, die Fingernägel in die Handballen gegraben und atmete stoßweise. Das Blut rauschte so laut in meinen Ohren, dass ich den an das Steinrund tretenden Schatten zuerst gar nicht hörte.
    Als ich ihn schließlich bemerkte, erfüllte mich eine eigenartige, nie gekannte Ruhe. Ich fühlte absolute Stille im Kopf. Womöglich resultierte sie aus der Unausweichlichkeit, der Endgültigkeit meiner Situation. Vielleicht war es der Zustand, den Thanatologen resignatio morituri nennen; jene Sekunden, in denen einem Menschen bewusst wird, dass sein Schicksal besiegelt ist, dass es keinen Ausweg mehr gibt, keine rettende Tür, keine helfende Hand. Dass sich die Klappe unter den Füßen geöffnet hat und der Strick sich jeden Moment spannt. Dass der Sturz begonnen hat und man jeden Augenblick auf dem Boden zerschellt. Dass die Kugel, die in den Kopf einschlagen wird, den Lauf verlassen hat.
    Ich drehte mich halb auf den Rücken und starrte den riesigen krabbenartigen Schatten schweigend an. Der Aqunaki hatte seinen Vorderkörper aufgerichtet und ließ die scherenartigen Zwillingsklauen an seinen Beinenden erkennen. Seine über drei Meter langen Rückenschwingen waren steil aufgerichtet, und obwohl sie die Kontur von Fledermausflügeln besaßen, waren sie transparent und ähnelten mit ihren Membranen eher Insektenflügeln. Jenes abscheuliche Gebilde, das wie ein dicker, kurzer, tentakelbesetzter Rüssel aussah und statt eines Kopfes die Körperfront bildete, befand sich in ständiger Bewegung.
    Steh auf!
    Ich zuckte erschrocken zusammen und starrte auf die fingerlangen Tentakel, die im selben Moment, als ich die Worte vernommen hatte, schwach aufgeleuchtet hatten. Es war nicht der unmissverständliche Befehl gewesen, der mich weiterhin wie paralysiert auf dem Boden hielt, sondern die Tatsache, dass diese Stimme direkt in meinem Kopf erklungen war. Reglos blickte ich auf den Schatten. Als das schneckenförmige Organ ein zweites Mal aufleuchtete, vernahm ich die Stimme ungleich deutlicher. Sie forderte: Steh auf, Poul Silis!
     
    Abscheu und Neugier. Grauen und Faszination.
    Ich stand vor dem Aqunaki und kam nicht umhin, ihn unverhohlen anzustarren, im Sternenlicht jede Hautfalte zu studieren, jede seiner Bewegungen zu verfolgen und jedes Geräusch wahrzunehmen, das diese bizarre Kreatur erzeugte. Sie reichte mir, sofern sie auf allen sechs Beinen stand, gerade mal bis knapp über die Hüfte, aber das hatte wenig zu bedeuten. Mit aufgerichtetem Vorderleib starrte mir der Aqunaki direkt ins Gesicht.
    Ich betrachtete den tentakelbesetzten Pseudokopf, erkannte aber weiterhin nichts, das wie Augen aussah. Dennoch schien mich der Aqunaki weitaus deutlicher zu sehen als ich ihn.
    Du hast von uns nichts zu befürchten, erschreckte mich seine Gedankenstimme.
    Ich atmete tief durch. »Woher kennt ihr meinen Namen?«, brachte ich stockend hervor. »Und wieso sprecht ihr meine Sprache?«
    Wir kennen deine Gedanken, erhielt ich zur Antwort. Wir haben dich studiert. Dein Wissen und deine Zeichen. Du bist der Siebte. Folge uns, Poul Silis.
    Ich sah mich fröstelnd um. Einer der drei Aqunaki lief bereits auf die kolossale schwarze Wand zu, die der Mount Breva in der Dunkelheit bildete. Der zweite hielt sich hinter mir auf. Er

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