Imagon
»Na ja, geht so.«
»Was fehlt Ihnen denn?«
»Purpur, Zinnober und Rubin.« Sie lachte verhalten, als ich nichts entgegnete. »Tut mir Leid«, entschuldigte sie sich. »Sie halten mich wahrscheinlich nach zwanzig Sekunden bereits für völlig albern.«
Ich musste ebenfalls grinsen. »Nicht völlig.« Ich zündete mir eine Zigarette an. »Verzeihen Sie die Frage, aber wie alt sind Sie, Nauna?«
»Siebenundzwanzig. Ungefähr.«
»Ungefähr?«
»Biologisch gesehen. Sie müssen übrigens das U einzeln betonen; Na- u -na.«
»Aha. Also, hm, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich erzähle Ihnen, wie man sich nach einer afrikanischen Grippe fühlt, und danach erzählen Sie mir, warum Sie – biologisch gesehen – seit vier Wochen nur Bücher lesen und im Internet herumstöbern.«
Eine Weile hörte ich Naunas Atemzüge, als denke sie nach.
»Ich möchte nicht darüber reden«, entschied sie dann. Ihre Stimmung war hörbar in Schräglage geraten. »Bitte nicht jetzt …«
»Okay.« Ich überlegte fieberhaft. Es lag an mir, die Sache wieder ins Lot zu bringen. »Sie haben einen eigenartigen Dialekt«, bemerkte ich. »Russisch klingt er jedenfalls nicht.«
»Ich komme aus Grönland.« Nauna schwieg, als erwartete sie von mir irgendeine Reaktion darauf. »Waren Sie schon einmal in Grönland?« Ihre Stimme klang unmerklich verändert.
»Nein.«
Stille.
»Eines Tages werden Sie Grönland besuchen.«
Ich musste lachen. »Oh, sicher nicht.«
»Doch, ganz sicher.«
Ich wollte bereits ansetzen, Nauna etwas über mein spezielles Verhältnis zu Schnee und Eis zu erzählen, als sie fast nostalgisch fortfuhr: »Es gab eine Zeit, in der das Land wirklich grün war, und die Sommer waren angenehm warm. Und Moschusochsen, Wölfe, Hasen und Lemminge streiften umher und bevölkerten die Flusstäler. Das Eis erhob sich fünfzig bis hundert Kilometer weiter landeinwärts, und die Menschen, die nicht unmittelbar an der Küste lebten, betrieben Ackerbau oder gingen im Landesinneren auf die Jagd …«
»Ja«, stimmte ich zu, »aber das ist schon lange her.«
»Hmm …«, machte Nauna.
Es klang seltsam, fast, als habe sie Heimweh nach dem, was sie soeben erzählt hatte. Aber das war Unsinn. Tagträumerei. Vielleicht stammte sie aus dem Süden Grönlands, aus Julianehåb oder Ivigtut. Die Südspitze liegt auf derselben geographischen Höhe wie Oslo oder Helsinki. Immerhin steigt die Temperatur an der König-Frederik-Küste und am Kap Farvel während der Sommermonate hin und wieder bis auf fünfzehn Grad Celsius, und die eisfreie Tundra an der Südwestküste ist von üppiger Vegetation bedeckt, die im Sommer guten Gewissens als ›Grünes Land‹ bezeichnet werden kann. Eine Grönländerin, die in einer russischen Exklave saß und die englischen Bücher dänischer Akademiker las … Wunderlich, fürwahr.
»Stammen Sie aus dem Süden?«, fragte ich, nachdem Nauna erneut für längere Zeit geschwiegen hatte.
Am anderen Ende der Leitung erklang ein leises Schluchzen, und ich fühlte mich plötzlich, als hätte ich einen Fehler gemacht, etwas Falsches gesagt, irgendeine dumme Bemerkung geäußert, ohne zu denken.
»Nein.« Ihre Stimme war eher ein Hauch. »Entschuldigen Sie«, fügte sie sofort hinzu.
»Schon gut«, meinte ich. Nicht gut, du Schwachkopf!
»Ich verliere ungern die Fassung.« Nauna lachte leise und ein wenig gezwungen. »Aber die Schmerzen … Darf ich Sie etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Wann haben Sie zum letzten Mal geweint?«
Ich atmete tief durch, überrascht von der Direktheit ihrer Frage. Ich blickte in einen tiefen, dunklen Abgrund, suchte irgendwo in meinem Inneren nach einer Antwort. Wann hast du zum letzten Mal geweint, Akademiker?
»Ich glaube, nach dem Tod meiner Mutter – vor fünfzehn Jahren.«
Wieder entstand eine lange, unangenehme Pause. Leise, fast ängstlich bekannte Nauna schließlich: »Ich weine fünfzehn Mal am Tag.« Sie schwieg erneut, und ich glaubte bereits, sie würde jeden Augenblick die Verbindung abbrechen. »Sind Sie noch da?« Ihre Stimme war tränenerstickt.
»Ja.«
Dann begann sie zu erzählen, und ich erfuhr, wo dieser geheimnisvolle Ort tatsächlich lag, von dem aus sie mit mir sprach …
Ich schloss die Datei, klappte den Laptop zu und starrte lange Zeit auf das winzige Bord, das mir als Arbeits-, Ess- und Nachttisch diente. Die Zeit nördlich des Polarkreises schien kaum voranzuschreiten. Mühsam drehte der Sekundenzeiger seine Runden, als behindere eine
Weitere Kostenlose Bücher