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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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dem Frachtcontainer mit meinem Equipment ein Helikopter bereitstand, um mich zum Krater zu fliegen. Auf meine Frage, warum der Flug nicht direkt von Scoresby aus möglich sei und ich die zeitraubende Fahrt entlang des Kap Tobin in Kauf nehmen müsse, hörte ich von einem übermüdeten Mitarbeiter der SM-Station haarsträubende Ausflüchte, unter denen Treibstoffprobleme und Pilotenmangel noch die glaubhaftesten waren. Die meisten Leute in Scoresby gingen davon aus, dass man im Nordosten auf ein Kryolith-Vorkommen gestoßen sei. Über den Meteoriteneinschlag wusste niemand mehr zu berichten als bereits offiziell bekannt war.
    Ein Grund, weshalb mir in Scoresby kein Helikopter zur Verfügung gestellt wurde, mochte sein, dass aus dem nahe am Epizentrum gelegenen Mestersvig ständig Proviant und Arbeitsmittel hin- und hergeflogen werden mussten und alle Cargo-Helikopter auf dieser Route im Einsatz waren. Die Twinotter- und Herkules-Flugzeuge des dänischen Militärs waren für Landungen auf dem Inlandeis kaum geeignet. Wie reich der karge Osten mit Fluggeräten gesegnet war, wusste ich nicht. Wahrscheinlich war ein weiterer Grund für den angeblichen Helikoptermangel, dass die Einheimischen keine Dänen mochten und sich nicht um deren Belange scherten – selbst wenn hinter der nächsten Hügelkuppe drei voll getankte Fayriedynes bereitstehen würden. Zudem war diese Region ein Nationalpark, und der offizielle und zugleich letzte Flugplatz im Nordosten war Constable Point bei Mestersvig. Es hing wohl mit den Statuten der dänischen Regierung und der horrend hohen Such-, Rettungs- und Bergungsversicherung zusammen, die für mich abgeschlossen worden war. Ich flog entweder von Mestersvig aus zum Krater oder gar nicht.
    Bei der Weiterfahrt passierten wir Aalrajivit, ein zu Scoresby gehörendes Inuit-Dorf, und über einen Kilometer lieferten sich Dutzende von Kajaks mit übermotivierten halbwüchsigen Eskimos ein Rennen mit unserem Schiff. Es war ein Schauspiel, das ich bisher nur aus den Schilderungen Nansens, Wagners oder Lindsdays kannte. Als die Boote hinter uns zurückgeblieben waren und ich in meiner Kajüte lag, schweiften meine Gedanken wieder hinaus über das Eis – zu dem geheimnisvollen Bauwerk, das eine Laune der Natur ans Tageslicht gefördert hatte. Eine nagende, ununterdrückbare Erwartung beherrschte mich und begann zunehmend mein Denken zu bestimmen. Je näher die Fajir dem Ziel kam und ich Zeit fand, ein paar Stunden zu schlafen, desto intensiver wurden meine Träume. Genauer gesagt war es immerfort ein und derselbe Traum, die finstere, stille Vision des nachtschwarzen Gebirges, über dem ich unmerklich langsam dem geisterhaften Lichtstreif am Horizont näher zu kommen glaubte. Ich sehnte mich nach diesem unendlich weit entfernten Schimmer, doch er schien genauso schnell vor mir zu fliehen, wie ich über die schroffen Gipfel glitt. Es war, als schwebe ich im Kernschatten eines riesigen Mondes, der sich vor die Sonne geschoben hatte. Tagelang, so kam es mir vor, glitt ich dahin, weiter und weiter; doch so weit ich auch schwebte, ich erreichte kein Ziel …
    Am späten Nachmittag des 20. Juni liefen wir nach quälend langsamer Slalomfahrt um treibende Eisberge in Mestersvig ein. Der einstige Handelsposten, den die Inuit Livaaqriit nennen, bestand aus einer scheinbar wahllos auf dem hügeligen, felsigen Grund verstreuten Anzahl dänischer Fertighäuser und einem am Hafenplatz gelegenen Zentrum. Rote, grüne und blaue Holzhütten in Ufernähe wurden von einer heruntergekommenen Fischfabrik, einem geschlossenen Supermarkt und der obligatorischen Holzkirche dominiert. Zuvor hatten wir ein paar Kilometer weiter südlich die verfallenden Bleiglanz- und Zinkerz-Förderanlagen passiert, für die der Ort vor über dreißig Jahren bekannt gewesen war. Eine johlende Kindermeute tollte an der Mole herum, bullig wirkende Kreaturen in speckigen, zerschlissenen Anoraks und Gummistiefeln. Blutige Seehundkadaver lagen am Pier, Jugendliche hockten auf leeren Benzinfässern, eine Handvoll Alter kauerte vor einer Barackenwand wie Hühner auf der Stange. Ihre Gesichter waren dunkel und erinnerten an Lava. Es roch nach Fisch und toten Robben. Überall im Dorf war Hundejaulen zu hören. Hatte Scoresby noch nostalgisch gewirkt, so erinnerte mich dieser Ort an eine arktische Strafkolonie. Ich ging schlecht gelaunt von Bord, da ich erbärmlich geschlafen hatte, und stand für eine geraume Zeit völlig deplaziert im Hafen herum. In

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