Imagon
Menschen‹.
Ich rätselte, was Dänemark vor dreihundert Jahren bewogen haben mochte, diesen trostlosen Flecken Erde zu besiedeln. Und ich fragte mich seit meiner Schulzeit, was Menschen auch heute noch dazu bringt, sich hier niederzulassen. Vielleicht sind es die Berge, dachte ich mit einem Blick auf die sich in den Himmel bohrenden Zweitausender der Bloßeville Kyst. Berge, die die Dänen ihre Berge nennen durften und die weitaus imponierender sind als der Yding Skorho auf Jütland.
Zitternd vor Kälte stand ich am Bug der Fajir und blickte auf die immerfort kalbenden Gletscher. Sie ließen mächtige Eisberge vor die Küste treiben, gewaltigen Schlachtschiffen gleich, die im Sonnenlicht flirrten und funkelten wie Gebilde aus Flammen oder blankem Metall. Donnernd lösten sie sich vom Firn und verschwanden zunächst völlig unter Wasser. Nichts war daraufhin zu sehen außer einem heftigen Brodeln der See und hoch aufschießenden Gischtwolken, wie man sie am Fuße eines großen Katarakts beobachtet. Nach kurzer Zeit tauchten die Eismassen, Wasserfälle abschüttelnd, wieder auf und stiegen höher und höher empor, bis sie weit über dem Meeresspiegel standen; dann schlingerten sie schwerfällig umher, als wüssten sie nicht, in welche Richtung sie kippen sollten, und kamen langsam zur Ruhe.
Teils fasziniert, teils von meiner tiefverwurzelten Aversion übermannt, betrachtete ich ihre majestätischen Massen und die Vielfalt ihrer Formen. Stets im Wandel begriffen, waren manche flach wie Prärieebenen, andere wiederum schroff wie Berggipfel oder zu Säulen erstarrt wie Tempelruinen. Sie zeigten sich im Licht der Abendsonne schwarz, blutrot, golden und purpurn, smaragdgrün, kobaltblau oder opalisierend weiß. All ihre vergängliche Schönheit trieb mit der Strömung letztlich in ein hoffnungsloses, dunstiges Grau jenseits des Horizonts.
Die Inuit begegnen den Gletschern mit abergläubischer Ehrfurcht. Rudern sie während der Jagd an einem dieser Giganten vorbei, wagen sie weder zu lachen noch seinen Namen zu rufen; der Überlieferung nach rächt er sich für eine solche Freveltat, indem er ihre Boote unter einem Eishagel zerschmettert, oder er bringt die Eisberge dazu, sich zu drehen, worauf meterhohe Flutwellen die Kajaks verschlucken.
Knapp zwei Stunden später fuhren wir in den Sund von Scoresby ein und gingen im Hafen des gleichnamigen Ortes vor Anker. Hervorgegangen aus einer dänischen Forschungsstation, verkam Ittoqqortoormiit, wie es die Einheimischen nennen, zu einem immer unwichtigeren Knotenpunkt an der Ostküste. DeFries bezeichnete seine seismologisch-meteorologische Station daher scherzhaft als ›SM-Baracke‹. Zwar war man über mein Kommen informiert, aber kaum eine Seele ließ sich bei der Ankunft des Schiffes außerhalb der Häuser blicken. ›Sommer‹ war in diesen Breitengraden beinahe schon ein Affront. Draußen auf dem Fjord glitten gewaltige Eisberge mit der Tide auf und ab. Der Himmel war dunkel verfärbt, genauso dunkel das Wasser, das obere Drittel der Berge hingegen weiß vom Neuschnee. Immer wieder schickte die Sonne einige Strahlen durch die dichte Wolkendecke. Ein Dutzend rostiger Fischkutter dümpelte im sanft wogenden Eissplitter-Brei, der selbst das Hafenbecken erfüllte.
Alles um uns herum gluckste und knirschte. Ich verspürte nicht die geringste Lust, mir auf dem Festland die Beine zu vertreten, obwohl ferne Musik und Stimmgewirr auf eine warme Gaststube hindeuteten. Ein Minigabelstapler surrte kreuz und quer über das Molengeviert, das Güterhafen, Bahnsteig, Bolzplatz, Promenade und Shoppingmeile in einem zu sein schien. Er setzte die vom Schiff geladenen Paletten mit Tuborg-Bier vor dem Lagerschuppen des Supermarktes ab, und gegenüber, an einer Treppe zur Staatshandelsgesellschaft, einen knallroten Postcontainer. Scoresby erweckte zwar den Anflug einer für die Infrastruktur bedeutsamen Ortschaft, aber bei näherem Hinsehen erkannte selbst ein ungeschulter Betrachter, dass ein schleichender Verfall die Siedlung fest im Griff hatte. Alles wirkte schäbig, abweisend, rostüberzogen und auf eigenartige Weise trostlos. Ein malerisches Drecksnest.
Der Kapitän der Fajir beschränkte unseren Aufenthalt auf das zeitliche Minimum, das nötig war, um Paletten mit Lebensmitteln, Textilien und Baustoffen zu löschen, und Paletten mit Fischkonserven, Fellen und Zink an Bord zu nehmen. Eine Stunde vor Mitternacht ertönte das Signal für die Weiterfahrt nach Mestersvig, wo neben
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