Imagon
unsichtbare Kraft seinen Lauf. Ich beschloss, mein Heil vor der Gleichförmigkeit und den Erinnerungen im Schlaf zu suchen.
Ich träumte von Schwärze, von abgrundtiefer Dunkelheit und unvorstellbarer Leere. Es war, als habe mich eine unbegreifliche Macht hinter die letzte Grenze des Universums katapultiert, in eine namenlose Region, in die der expandierende Kosmos noch nicht vorgedrungen war und vielleicht auch niemals vordringen wird, ein gottloses Nichts jenseits der Schöpfung.
Vor langer Zeit hatte ich von Musik geträumt. Es war ein Traum ohne Bilder und Formen, einzig aus Musik erschaffen, aus ihren Klängen und den Empfindungen, die sie in mir hervorriefen. Es war mein erster Traum einer Leere gewesen, erfüllt von tausend Arten ineinandergeflochtener Melodien. Jahre später hatte mich ein Traum heimgesucht, in dem ich mein Dasein nach einem lächerlichen Kampf gegen einen übermächtigen Gegner besinnungslos am Rande einer Klippe verbrachte. Ich lag bewegungslos am Boden, mit halb geschlossenen Augen und gespaltenem Schädel, und starrte in einen formlosen grauen Himmel, unfähig, mich zu bewegen, meine Augen zu schließen oder zu erwachen. Tagelang, so kam es mir vor, lag ich am Rand der Klippe, bis ich am folgenden Morgen vom Klingeln meines Weckers in die Realität zurückgerissen wurde.
Nun träumte ich von Schwärze. Die Inuit kennen über vier Dutzend verschiedene Begriffe für Schnee. Sollte es für sie ebenso viele Arten der Dunkelheit geben, so umgaben sie mich alle.
Es dauerte sehr lange, bis ich erste – sich bewegende – Formen zu erkennen glaubte, und weitaus länger, um sie tatsächlich zu sehen. Ich schwebte über eine Oberfläche, eine zerklüftete Landschaft. Mein Blick war unentwegt nach vorn gerichtet, fixiert auf einen hauchfeinen, über dem weit entfernten Horizont liegenden Lichtstreif. Das Licht spendete keine Helligkeit, schien Millionen von Kilometern entfernt. Gewaltige Schatten glitten schwerfällig an mir vorüber, und ich bildete mir ein, in ihnen Berggipfel, schroffe Felsgrate, Steilwände und Bergflanken zu erkennen. Der Himmel blieb weiterhin finster, ohne Wolken und Gestirne. Dunkler jedoch waren die Dome, Klippen und Zinnen des Gebirges, über das ich schwebte. Ich folgte einem Tal aus Dunkelheit, wie ein lautloses, gemächlich dahingleitendes Luftschiff, und mein einziges Auge befand sich an seiner Spitze. Ich fühlte keinen Wind, keine Kälte, nur Beklommenheit ob der Schwärze, der bedrohlichen Berggipfel und der lichtlosen Tiefe unter mir.
Es kam mir vor, als träumte ich den Traum eines Fremden. Von etwas Fremdem, das riesenhaft war und eins mit der Dunkelheit …
Mit einem erstickten Laut schreckte ich hoch, während ein Schmerz wie ein Stromstoß durch meinen Körper schoss. Ich sank mit klopfendem Herzen zurück und blieb liegen, bis sich der Schmerz gelegt hatte, dann blinzelte ich benommen ins Halbdunkel der Kabine, auf das Zifferblatt der Wanduhr. Ich hatte über drei Stunden geschlafen, fühlte mich jedoch elend und ausgelaugt.
Am Abend des 19. Juni erreichten wir wenige Seemeilen südlich von Kap Brewster die grönländische Küste. Das Meer offenbarte sich im Licht der tief stehenden Sonne als schimmernder Teppich azurblauer Wellen, doch trotz der fast spiegelglatten See fuhr das Schiff wegen des Treibeises mit so geringer Geschwindigkeit, dass ich nervös an Deck auf und ab lief. Alle paar Minuten ertönte eine Sirene, aber bis auf ein einziges Mal, als eine massige Scholle gegen den Rumpf schlug und das Schiff durchschüttelte, verlief die Passage ohne nennenswerte Zwischenfälle.
Obwohl ich meinem Ziel unaufhörlich näher kam, hatte ich das bedrückende Gefühl, vor der Vergangenheit und der Wirklichkeit zu fliehen. Die archaisch anmutende Küste besaß etwas Bedrohliches, Deprimierendes. Ich erkannte nur schroffe Felsklippen und riesige, abweisende Bergketten, von ewigem Eis bedeckte Hochplateaus, hoch aufragende Gletscher und tief ins Land schneidende Fjorde. Kein Baum weit und breit. Nicht einmal ein Strauch erhob sich über das von graubraunem Gras bedeckte Land, dessen Küste als karger Steinstrand vor der Brandung endete. Als Erik der Rote vor über eintausend Jahren seinen Fuß auf die Südspitze der Insel gesetzt und sie Grönland getauft hatte, musste ihn ein ungewöhnlich milder Sommer geblendet haben. Von einer grünen Insel konnte hier im Nordosten kaum die Rede sein.
Kalallit Nunaat hieß sie bei den Inuit, ›Land der
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