Imagon
Briefträger grüßte fröhlich, meine Ex winkte zumindest fröhlich, und sämtliche Anrufer schienen zum Frühstück einen Teller gute Laune gegessen zu haben. Das Seltsame daran: Hatte ich selbst mich während dieser zwei Wochen einmal in guter Verfassung befunden, waren meine Mitmenschen in völliger Lethargie gefangen, oder in einer genervten Rastlosigkeit, die jedem die Zeit geraubt zu haben schien außer mir.
Die Welt ist ein Irrenhaus.
Beim abendlichen Abrufen meiner Emails fand ich neben drei Anfragen von Studenten Naunas Brief. Der Absender mit russischem Länderkürzel war mir zunächst suspekt, und ich war geneigt, die Mail ungelesen zu löschen. Was mich letztlich davon abhielt, war der Betreff: ›Turmoil in Eden‹, der Titel der englischen Ausgabe meines jüngsten Buches, und die Tatsache, dass die Mail an eine alte Adresse gerichtet war. Fanpost, dachte ich. Oder irgendein Freak, der mit mir vor Jahren die Studienbank gedrückt hatte und ein »Hallo, wie geht’s?« loswerden wollte.
Die Nachricht war in Englisch geschrieben und sehr kurz gehalten. Man sah ihr an, dass es der Verfasser in, wie ich nun erkannte, unangenehm war, mir zu schreiben. Nauna, so ihr Name, hatte sich um passende Worte bemüht. Sie hatte Turmoil in Eden gelesen (auf englisch) und danach im Internet nach weiteren Informationen gesucht. Dabei war sie auf ein altes Interview mit mir gestoßen (von dem ich geglaubt hatte, es wäre längst gelöscht worden), hatte den Mail-Link entdeckt und auf gut Glück – ohne wirkliche Hoffnung, dass die Adresse noch Gültigkeit besaß – diese paar Zeilen an mich geschrieben. Sie erzählte, es sei ihr sehnlichster Wunsch, jemanden kennen zu lernen, dessen Berufung es sei, mit dem Universum in Berührung zu kommen. Wenn sie damals gewusst hätte, wie treffend diese Worte waren …
Ich hatte ihr geantwortet, aus einer spontanen Laune heraus. Ihr entgegnet, dass auch sie ein Teil des Universums war. Am liebsten hätte ich ihr jedoch erzählt, wie dreckig es mir gerade ging. Ihre Reaktion folgte noch am selben Abend. Sie schrieb, dass sie sich über meine Nachricht unwahrscheinlich gefreut habe. Es sei die erste positive Überraschung seit Wochen gewesen, denn sie sei krank und könne das Haus nicht verlassen. Was für eine Ironie, dachte ich. Nauna gab zu, dass der wirkliche Anlass für ihre Mail nicht mein Buch, sondern die Abschlusserklärung des Niels-Bohr-Instituts zum Asqenaesset-Meteoriten gewesen sei. Erst daraufhin hätte sie sich Turmoil in Eden besorgen lassen und mit großem Interesse gelesen. Lesen, Fernsehen oder Internet seien gegenwärtig die einzigen Möglichkeiten für sie, die Zeit totzuschlagen, hatte sie hinzugefügt.
Ich bot an, ihr zwei, drei ältere Bücher von mir zu schicken, falls sie Lust hätte, sie zu lesen. Ein kleiner Anfall von Selbstgefälligkeit.
Sie antwortete, dass es nicht möglich sei, ihr Post zukommen zu lassen. Es gebe ein Problem mit ihrer Adresse. Falls ich aber von einem meiner Bücher eine englische Übersetzung gespeichert hätte, solle ich ihr diese als Datei schicken.
Meiner Frage, warum sie keine Postanschrift besitze, wich sie aus. Es sei nicht möglich, ihr Post zu senden, wiederholte sie. Ich solle ihr doch bitte per Internet eine Datei schicken. Und scherzhaft merkte sie an: ohne Viren.
Okay, dachte ich mir und hakte nicht weiter nach. Vielleicht war es ihre Art, Distanz zu wahren. Ihre geheimnisvolle Ausflucht hatte jedoch mein Interesse geweckt. Ich war neugierig geworden, wer Nauna war und wo sie lebte – neugierig auf jenen Ort, der auf dem Postweg nicht erreichbar war. Ein potemkinsches Dorf, dachte ich, und musste bei dem Gedanken grinsen. Ich entschied mich, ihr eine Textdatei von Apollon zu schicken, wartete jedoch an diesem Abend vergeblich auf ihre Antwort.
Erst tags darauf, gegen Mittag, befand sich eine neue Nachricht von ihr im Postfach. Ich hatte mich bereits dabei ertappt, seit dem Aufstehen fast stündlich meine Mails abzurufen. Nauna entschuldigte sich, sie sei gestern müde geworden und eingeschlafen. Bei ihr sei es zudem eine Stunde später als bei mir. Sie habe die Datei erhalten und bereits die ersten drei Kapitel gelesen.
Immerhin wusste ich nun, dass sie in der europäischen Nachbarzeitzone lebte, und nicht in Nowosibirsk oder Jakutsk.
Ich würde mich sehr gerne persönlich mit Ihnen unterhalten, falls Sie möchten, schrieb sie mir einen Tag später, aber so ist es umständlich. Würde es Ihnen viel
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