Imagon
ausmachen, zu telefonieren? Ich betrachtete den letzten Satz eine Weile auf dem Bildschirm. Meine Stimmung war gründlich im Keller, denn ich hatte mich gerade vor der Haustüre zehn Minuten lang mit meiner Ex gestritten. Sie hatte mit der Lebensmitteltüte auch ihre schlechte Laune bei mir abgeladen und war dann sichtlich entspannt zur Arbeit gefahren. Meine Ex konnte es sich in ihrem Job weder leisten, krank zu sein, noch schlechte Laune zu haben. Nun ja …
Nun ja, antwortete ich Nauna. Gerne. Zu mehr Konversation konnte ich mich nicht durchringen und schickte die Mail mit Grüßen ab. Danach rauchte ich die erste Zigarette seit fast drei Wochen, goss Blumen und sortierte alte Post in einen Ordner, wobei ich feststellte, dass ich meine persönlichen Briefe seit zwei Jahren planlos in einem Sideboard gestapelt hatte. Knapp eine Stunde später erklang das Signal einer eingehenden Nachricht aus dem Computer.
Können Sie mich um 19 Uhr Ihrer Zeit anrufen?, fragte Nauna. 0070-112-82290. Vielen Dank.
Ich sah auf die Monitoruhr. Noch sechs Stunden. Der Zufall und die Zeit, so heißt es, sind die größten Tyrannen der Erde.
Jede Sekunde meines Lebens habe ich meinem Willen entsprechend gehandelt, oder der Willkür meiner Umwelt folgend. Ich habe mich entschieden, nach rechts zu gehen, hätte aber auch geradeaus oder nach links laufen oder weiterhin auf der Stelle verharren können. In dem Augenblick, in dem ich meine Entscheidung treffe, erschaffe ich eine neue Parallelität. Das ist meine Definition der relativen Willkür. Ich bin überzeugt, dass es eine Parallelwelt gibt, in der ich geradeaus gegangen bin; und dass diese Ebene weiterhin existiert. In jeder Bewegung forme ich ein neues Muster aus willentlich geprägten Handlungen und Richtungen. Es besteht also die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit, dass ich mich inzwischen an hunderttausend verschiedenen Orten der Welt gleichzeitig befinde. Ein zufälliges Überkreuzen der Ebenen oder eine temporäre Fusion mit einem Parallel-Ego, das sich immer außerhalb des Wahrnehmungsbereiches aufhält, verursacht ein Déjà-vu.
Ich musste grinsen, nachdem ich den Text noch einmal gelesen hatte. Zufrieden lehnte ich mich in meinen Sessel zurück und führte die Kaffeetasse an die Lippen. Wenn ich Zeit überbrücken wollte, verfiel ich dem Laster der Philosophie. Zugegeben, das meiste davon war pure Spinnerei. Unbrauchbare Anhäufungen absurder Reflexionen und Ideenfolgen. Manch eine Spinnerei schlich sich jedoch hin und wieder in das eine oder andere Buch ein. Niemanden hatte es bisher gestört – oder niemand hatte es riskiert, sich gestört zu fühlen.
Ich zog mich mit Vergnügen in Träumereien zurück, gleichzeitig jedoch graute mir vor ihnen. Eine freudlose Mutation der Parallelität. Man könnte meine Angst definieren, indem man behauptet, meine Träume würden sich nicht für mich interessieren. Und ich traute mich nicht, nach ihnen zu greifen, denn ich befürchtete, dies könne sich bestätigen. Lieber eine Illusion, die mir gehörte, als ein Traum, der mich letztlich ablehnte.
Das Telefon neben dem Monitor war keine Illusion. Ich hatte am Nachmittag im Internet Naunas Telefonnummer recherchiert und herausgefunden, dass die Vorwahl hinter der Landeskennzahl die von Kaliningrad war. Dann hatte ich statt ihrer Rufnummer zum Spaß Fantasienummern eingegeben und gewartet, wer sich am anderen Ende der Leitung melden würde. Ohne besonderes Glück. ›Kein Anschluss unter dieser Nummer‹ auf russisch, mehr nicht.
Als ich um sieben Uhr Naunas Telefonnummer wählte, kam ich zunächst nicht durch. Erst beim achten Mal schaltete die Leitung frei, und ich horchte mit angehaltenem Atem. Nach dem dritten Rufton wurde abgehoben, und am anderen Ende fragte eine weibliche Stimme zögerlich auf russisch: »Alljo?« Sie war dunkel und dünn wie Papier.
Ich räusperte mich. »Hier ist Poul«, meldete ich mich auf englisch. »Nauna, sind Sie es …?«
»Poul! Hallo, Poul!« Nauna klang nicht nur erfreut, in ihrer Stimme lag etwas Eigenartiges, fast, als begrüße sie jemanden, den sie bereits ihr Leben lang kannte und der ihr sehr viel bedeutete. Zugleich verlor ihr Ton an kränklicher Zartheit, klang nun fest und noch ein wenig dunkler. »Ich freue mich, Ihre Stimme zu hören, nach so langer …« Sie stockte kurz, dann fragte sie: »Wie geht es Ihnen?«
Ich war für einen Augenblick irritiert. »Oh, ähm, hervorragend. Und Ihnen?«
Ein Brummen war die Antwort, dann:
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