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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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mir brodelte eine Mischung aus Wut, Neugier, Abscheu und Angst. Der Himmel war violett, die Sonne stand knapp über dem gebirgigen Horizont, und ein unangenehmer Wind wehte Eiskristalle über den gefrorenen Boden. Ich sah in die über der Bergkette hängende Sonne und fühlte mich, als habe man mich auf einem fernen Planeten ausgesetzt.

 
5
     
     
    Drei Stunden später hockte ich allein vor einem halb ausgetrunkenen Bier. Von meinem Piloten, einem Mann namens Hansen, der mich am Hafen hätte abholen sollen, fehlte noch immer jede Spur. Als was man das Begegnungszentrum, in das es mich nun verschlagen hatte, hätte bezeichnen können, wusste ich nicht zu sagen. Es glich einer misslungenen Mischung aus Beatschuppen, Hafenkaschemme und Turnhalle und diente dem abendlichen Vergnügen aller, die hier am Ende der Welt hausten. Um zehn vor zehn ging für eine Sekunde das Licht aus, und mir fiel erst jetzt auf, dass sämtliche Fensterläden geschlossen und die Fenster zusätzlich mit Spanplatten verrammelt waren. Der Wirt, ein grönländischer Gorilla, schob drei Kellnerinnen zur Verstärkung hinter die Bar und schloss mit seinem Walrossbauch den Durchgang. Nun waren es zwölf Hände hinter dem Ausschank, doch es hätten hundert sein müssen, so viele strecken sich ihnen mit abgezählten Scheinen zwischen den Fingern entgegen; Männerfäuste, Mädchenhände. Das Bier war längst ausverkauft, aber am Tisch hatte jeder eine Batterie davon vor der Brust. Die Gesichter um mich herum waren entspannt und gelöst und widerspiegelten Zeit für alles.
    Überrumpelt von der Schlussverkaufs-Szene, die sich an der Theke abspielte, starrte ich in die goldgelbe Flüssigkeit in meinem Glas und überlegte ernsthaft, ob DeFries’ ganze Geschichte von dem Krater und einem prähistorischen Relikt nicht Teil einer ausgeklügelten Wette war, um mich über den sechzigsten Breitengrad zu locken. Zu meiner Studienzeit hatte ich DeFries hoch und heilig geschworen, niemals einen Flecken Land zu betreten, der nördlicher liegt als Kap Grenen.
    Gottverdammte Kälte, gottverdammter Schnee …
     
    »Dein Ehrgeiz wird dich eines Tages an den Arsch der Welt führen, und unaufhaltsam fort vom Leben«, hatte mein Vater mir einst an einem seiner halbwegs nüchternen Abende vorgeworfen, während ich mit meiner Mutter schweigend den Abwasch erledigt hatte. Alles, was er nicht begreifen konnte, hatte seiner Meinung nach nichts mit dem Leben zu tun. Jetzt, da ich hier in Mestersvig saß und meinen Blick über die verlorenen Seelen im Tanzschuppen schweifen ließ, beschlich mich der leise Verdacht, dass in seinen Worten ein Funken Wahrheit gesteckt hatte. Oder mehrere Promille, je nachdem. »Irgendwo dort draußen«, war mein Vater in seinem Monolog fortgefahren, »wirst du erkennen, dass dein heiliger Gral nur aus Kuhscheiße besteht, du Akademiker.«
    Eines glaubte ich aus der Vergangenheit gelernt zu haben: Man ist nur so intelligent wie die Welt, zu der man sich hingezogen fühlt. Mein Vater vereinte den Scharfsinn von achtzehn Kühen, zweiundzwanzig Hausschweinen, etwa drei Dutzend Hühnern und Gänsen und zwei Dronningborg-Traktoren in sich. Seine Devise war: Man muss kein Mathematiker sein, um zu erkennen, dass ein Kuheuter vier Zitzen besitzt, kein Chemiker, um zu wissen, wann Milch gerinnt, und kein Geologe, um zu erkennen, dass unser Grundstück absolut groß genug war, um uns – auch mich! – später einmal zu ernähren. Und was den von mir angestrebten Doktorgrad anbelangte, wäre der eines Veterinärs zweifellos der sinnvollste. Mein Vater verwendete mit Vorliebe Final-Adverben wie ›absolut‹, ›unbedingt‹, ›zweifellos‹ oder ›niemals‹. Seine Vorstellung von höheren Zielen beschränkte sich auf die Steigerung der wirtschaftlichen Rentabilität seines Hofes. Mein Platz sei hier, und nicht in irgendeiner weltfremden Universität. Ende der Diskussion. Erfahrungsgemäß folgte noch eine Bemerkung, die seinen ganzen Respekt für uns, seine Familie, ausdrückte, indem er sagte: »Immer Ärger mit dem Personal.« Diesen Satz werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Er schmerzt noch heute mehr als alles andere.
    Dann starrte mein Vater – leer im Kopf nach einer solchen Grundsatzdiskussion – auf seinen ausgelöffelten Teller oder einfach nur auf die Tischplatte und schwieg. Das waren die bedrohlichsten Momente, denn ich wusste, es würde noch irgendetwas folgen. Eine finale Mannestat, die seine Worte untermauerte. Eine Erhärtung.

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