Imagon
Ihr Ausmaß war abhängig von der Anzahl der Alkoholmoleküle, die um seine Neuronen kreisten. Im Frühling säte mein Vater das Korn, im Sommer pflegte er es, im Herbst erntete er es – und im Winter, wenn die Felder brach lagen, soff er es. Dafür hasste ich ihn. Ganz besonders hasste ich ihn im Winter. Seine ›Erhärtung‹ war ebenso abhängig vom Ausmaß seiner Tagesprobleme und davon, wie wichtig mein Vater die Worte nahm, die er gerade gesprochen hatte – abzüglich des Anteils, an den er sich schon jetzt nicht mehr erinnern konnte.
»Man muss Dinge zur Sprache bringen, wenn sie erkennbar sind«, hatte er hin und wieder tonlos gemurmelt, »und nicht erst viel später, wenn sie sich festgesetzt haben und dem Schuldigen falsche Sicherheit schenken. Es ist besser, Dinge zu regeln, so lange sie noch in Bewegung sind, statt ratenweise für Unruhe zu sorgen.«
Das war seine Rechtfertigung gewesen.
Tagsüber zog ich mich in der Schule wieder an meiner Intelligenz hoch, übte auf dem Papier Rache an der Einfalt meines Vaters. »Poul, du behandelst die Welt, als sei sie ein logisches System«, bekam ich dafür nicht selten von einem meiner Lehrer zu hören. »Du sollst ein Gedicht schreiben und keinen mathematischen Beweis!« Ich hatte mir seit dem fünften Lebensjahr das Lesen, Schreiben, Rechnen und die Grundkenntnisse der englischen Sprache selbst beigebracht – sehr zum Leidwesen meines Vaters. Während alle anderen Kinder zusammen spielten und etwas unternahmen, saß ich irgendwo im Haus oder in den Stallungen mit einem Buch vor dem Gesicht und las. Mein Vater schmiss mich hin und wieder regelrecht aus der Wohnung, damit ich an die frische Luft kam. Dann entfernte ich mich für gewöhnlich ein paar hundert Meter vom Hof, hockte mich an einen Baum und las weiter. Ich hatte mir für solche Frischluft-Notfälle in hohlen Baumstümpfen drei geheime Bücherlager angelegt, die in verschiedenen Richtungen vom Anwesen entfernt lagen. Darin warteten jeweils zwei bis drei Bücher unterschiedlicher Lektüre, wasserdicht verpackt in Plastikbeutel. Als ich ein paar Monate später endlich eingeschult wurde, war ich völlig überqualifiziert und automatisch zum Einzelgänger verdammt, was mich stolz machte, denn ich spürte, wie dumm meine gleichaltrige Umgebung war.
Es kam so weit, dass ich nach einem halben Jahr von der ersten Klasse direkt in die dritte versetzt wurde. Seitdem machte mir die Schule etwas mehr Spaß, denn ich lernte manchmal wirklich etwas Neues. Mein persönliches Bestreben, immer mehr Wissen in mich aufzunehmen, nahm dadurch noch zu, denn wenn ich etwas verhindern wollte, dann war es der Augenblick, in dem meine Klassenkameraden mein intellektuelles Niveau erreichten. Ich hasste egalité, schon damals. Mein Vater übrigens auch, aber aus einem anderen Grund. Daher versuchte er mir die vermeintlichen Flausen abends auf seine Art wieder auszutreiben.
Meine Mutter sah weg, wie immer. Aus Feigheit oder aus Angst oder aus Resignation. Wahrscheinlich noch aus vielen anderen Gründen. Sie suchte Trost und Vergessenheit, Blindheit und Taubheit im Apfelwein. Doch er linderte ihre Qual nicht, brachte ihr keine Erlösung, sondern machte sie nur gefügig. Gefügig für das, was folgte, nachdem mein Vater mit mir fertig war …
Es gab eine Zeit, in der ich zu jung war, um zu begreifen, was danach geschah. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der ich aus einem Alptraum erwachte, von den Schmerzen auf meinen Schenkeln und meinem Rücken geweckt, und bemerkte, dass ich nicht mehr allein im Zimmer war. Ich hörte den Atem meiner Mutter – ein ersticktes, nach Fassung ringendes Pumpen, mühsam beherrscht und beunruhigend – und roch ihren Apfelweinatem, der das Zimmer schwängerte. Sie saß etwa zwei Meter entfernt auf einem Schemel am Fenster und sah nach draußen, obwohl die Fensterläden geschlossen waren. Sie starrte in irgendeine Ferne, auf etwas, das nur sie sehen konnte und zu dem ihr keine irdische Schranke den Blick verwehrte. Aus irgendeinem Grund musste sie gefühlt haben, dass ich wach war, wenngleich ich hätte schwören können, dass ich nur die Augen aufgeschlagen hatte. Vielleicht hatte ich vor Schreck über ihre schattenhafte Anwesenheit den Atem angehalten. Ich weiß es nicht mehr.
Meine Mutter blieb weiterhin unbeweglich sitzen, während ich das Schnarchen meines Vaters aus dem elterlichen Schlafzimmer hörte. Als spreche sie zu sich selbst, begann sie schließlich mit tonloser Stimme aus der
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