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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Bibel zu rezitieren; aus dem Buch Levitikus, wie ich Jahre später herausfand.
    Sie sprach: »Welcher Mann einen Ausfluss hat aus seinem Leib, derselbe wird unrein. Jedes Lager, darauf er liegt, wird unrein, und alles, darauf er sitzt, ist unrein. Und wer anrührt sein Lager und sein Fleisch, wird unrein, und wer sich setzt, da er gesessen ist, ist unrein. Jeder, auf den er seinen Speichel wirft, wird unrein, und der Sattel, auf dem er geritten ward, ist unrein. Wer seine Kleider trägt, wird unrein, und jedes Gefäß, das er berührt hat, ist unrein. Jeder, der seinen Samen empfängt, wird unrein, und jede Haut, die sein Same befleckt, ist unrein. Die Frau, bei welcher ein solcher liegt, wird unrein, und jeder, der sie berührt, ist unrein. Ein Priester soll aus ihr machen ein Brandopfer, und aus den anderen Sündenopfer.« Sie schwieg einige Sekunden, in denen ich nur das Hämmern meines Herzens hörte, dann sagte sie: »Das ist das Gesetz der Plage«, wandte sich um und verließ das Zimmer.
    Ich hatte Jahre gebraucht, um dahinter zu kommen, was sie mir auf diese enigmatische Art und Weise mitgeteilt hatte.
    Das Leben, so hatte ich gelernt, ist ein aktives chemisches System, von der Umgebung abgetrennt und nicht im chemischen Gleichgewicht mit ihr. Tritt das chemische Gleichgewicht ein, bedeutet das den Tod. Wie leidenschaftlich hatte ich in manchen Nächten, in denen ich wegen der Schmerzen der Striemen, die von Lederriemen herrührten und mich nicht schlafen ließen, das chemische Gleichgewicht zwischen meinem Vater und der Welt herbeigesehnt.
    Heftiger Atem und ein Hauch von Fusel streiften unvermittelt mein Gesicht und ließen mich – noch ganz in Gedanken – zusammenzucken. Mädchenfinger nestelten Naunas Talisman aus meinem Hemd, Mandelaugen sahen mich an.
    »Was ist das?« Die Stimme der jungen Frau klang belegt.
    »Ein Zauber«, entgegnete ich mit schwerer Zunge.
    »Von einer Frau?«
    »Ja.«
    Das Mädchen fasste in ihren Nacken, ihr langes schwarzes Haar fiel über ihr Gesicht. Eine Schnur flog mir über den Kopf wie eine Schlinge, und schwer und körperwarm rutschte ein Stück Elfenbein in meinen Hemdausschnitt.
    »Grönlandzauber«, sagte das Mädchen, »ist stärker.« Dann schlüpfte sie zwischen die drängenden Leiber und war verschwunden.
    Ich sah ihr nach und spielte mit dem Gedanken, ihr zu folgen, als plötzlich eine Band loslärmte und zweihundert Stiefel lostrampelten: Vor-zwei-drei-vier, Zurück-zwei-drei, und im Kreise viermal rum. Kein Beat, kein Rock – Polka.
    Ich sank hilflos auf meinen Stuhl zurück und beobachtete das Treiben. Die Gäste wuchteten einander, an den Hüften gepackt, wie Tanzbären über die Bretter; Wikingerschädel mit dichten Bärten ragten über schwarzen Scheiteln auf. Wie besessen tanzten und soffen sie, es roch nach Sprit, Tran und Erbrochenem. Aus den Nebelbänken des Tabakqualms tauchten für Sekunden die Gespenster bekannter Gesichter auf: Das grimmige Grinsen von Seewolf Larsen, der ein Eskimo-Mädchen in seinen Tatzen hielt, und der stechende Blick Jack Londons, seines geistigen Vaters …
    Sk0l, König Alkohol, dachte ich und nippte an meinem Bier.
    Irgendwann ging das Licht aus und wieder an, dreimal hintereinander, und die Musik erstarb mitten im Takt. Einen Augenblick standen alle Gäste wie erstarrt, dann griffen sie nach ihren Parkas und Anoraks und den letzten Drinks, um nach und nach aus der Tür in die dämmrige arktische Nacht zu torkeln. Ich schaute auf die Uhr. Es war elf, und von meinem Piloten noch immer keine Haarspitze zu sehen.
    Grönlandzauber …
    Ich fühlte nach dem Stück geschnitzten Walrosszahns auf meiner Brust und verspürte das Bedürfnis, ebenfalls an die Luft zu gehen. Selbst im Sommer fiel hier nachts die Temperatur ins Bodenlose. Als ich aus der muffig-schwülen Wärme des Tanzschuppens trat, schlug mir die Kälte wie eine stählerne Faust ins Gesicht, und bevor meine Augen den geisterhaft erleuchteten Himmel wahrnahmen, hatte ich schon Eisstücke in der Nase. Das Thermometer neben dem Hauseingang zeigte minus 23 Grad Celsius. Mestersvig lag im Tran, nur vereinzelte Fenster in den Hütten und Wohnblocks waren schwach erleuchtet, in einem gespenstischen, unirdischen Lila. Ultraviolette Lichter, künstliche Sonnen, die Tag und Nacht ordinäre Blattpflanzen auf den Fensterbänken bestrahlten. Der tagsüber schmelzende Schnee brachte allen möglichen Abfall der grönländischen Gesellschaft wieder zum Vorschein, und die Kälte des

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