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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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vor ihren Schnauzen zu Fall kam. Zu meiner Beruhigung versicherte mir Hansen, dass die Hunde angepflockt waren und ich nicht fürchten musste, am Morgen auf acht Mägen verteilt zu sein.
    Sturm zerrte an den dünnen Holzwänden, pfiff durch Ritzen, ließ die Bohlen klappern und das Dach ächzen. Durch die Scheiben, von perlenden Regentropfen zerschnitten, glühten im Fjord die Eisberge in der Mitternachtssonne. Eine Glühbirne pendelte an der Decke und illuminierte bonbonbunte Jesus-Bildnisse, die die Stube dekorierten.
    »Und, gut?«, erkundigte sich Hansen und deutete auf meinen Teller.
    Ich nickte, da ich nicht wusste, um was oder wie viel er mit den Inuit gewettet hatte. Hansen grinste die beiden an. Anuka machte eine unverständliche Bemerkung.
    »Was hat er gesagt?«
    »Er mag Sie nicht«, erklärte Hansen, worauf ich schon von allein gekommen war. »Die Dänen, die hier im Ort ansässig sind und Holzhäuser zimmern oder Frachter zu den Außenposten durchs Packeis bugsieren, stehen im Verruf, Inuit-Männer zu schikanieren und den Inuit-Frauen nachzustellen. Vor zwei Jahren wurde Anukas Schwester von einem von ihnen misshandelt. Eine Woche später war sie verschwunden. Ein paar Leute im Hafen wollen sie gesehen haben, wie sie nachts an Bord eines dänischen Frachters ging. Andere behaupten, sie wurde an Bord gebracht. Am nächsten Morgen war das Schiff ausgelaufen. Seitdem hat keiner je wieder etwas von ihr gehört oder gesehen.« Hansen paffte an seiner Pfeife. »Der Junge hasst die Dänen«, murmelte er. »Deshalb hat er auch Ihr Essen vergiftet.«
    Ich hörte auf zu kauen, Hansen fing an zu lachen. Anuka steckte seine rechte Hand in seine Hose und ließ seinen ausgestreckten Daumen durch den Hosenschlitz winken. »Uvalit matak«, grinste er und verließ sichtlich amüsiert die Hütte. Ruono sagte immerhin noch verständlich »Gute Nacht«, ehe er ihm folgte.
    »Nehmen Sie das nicht so ernst«, meinte Hansen, als ich den Teller fortschob. »Inuit-Humor ist so grob wie ihre Gaumen.«
    »Humor?« Ich grinste verstimmt. »Wussten Sie, dass Grönländer alles für Realität halten, was sie im TV sehen? Wird in einem Spielfilm ein Mensch erschossen, ist er für sie wirklich tot. Erzählen Sie mir nicht, solche einfältigen Leute hätten Humor.«
    »Immerhin stellen Ihnen die beiden für die Nacht ihr Haus zur Verfügung.«
    »Wann starten wir?«, erkundigte ich mich.
    »Nicht vor elf Uhr früh.« Hansen klopft seine Pfeife aus und sah mich müde an. »Wenn das Wetter mitmacht. Auf Ihre Ausrüstung müssen sie allerdings bis frühestens übermorgen warten, da ich mit Aufträgen voll bin. Den Stauraum, der für Ihren Container reserviert war, brauche ich für eine Sanitätsliege; ein behandelter Unglücksfall, den ich nach Tasiilaq verfrachten muss.« Hansen unterband meinen Protest mit einer eindeutigen Geste. »Es gibt eine Rangfolge, Mr. Silis: Post, Passagier, Fracht. Ein Kranker wird dieser Hierarchie automatisch vorangestellt. Zudem bestimmt jegliche Fortbewegung in diesem Land einzig und allein das Wetter. Das ist eine Erfahrung, mit der für Sie als Fremder alles anfängt. Ich führe eine Warteliste, und es ist nur Brobergs Diplomatie zu verdanken, dass Sie nicht eine Woche auf den Flug ins Inland warten müssen, sondern schon morgen mitgenommen werden.
    Regel zwei: Der launische Wechsel von Schnee und Regen, Frost und Nebel, Sturm, Tauwetter und Temperaturstürzen von bis zu 30 Grad hat selbst die Zivilisationsneurosen der hier ansässigen Europäer zu einer monolithischen Tugend verwittern lassen: der Kunst zu warten. Die Inuit haben ein Wort, das auf alles passt. Es heißt imaqua – es bedeutet ›vielleicht‹ oder ›wait and see‹. Darum nennen die Eingeweihten unsere feine rote Tochter von SAS auch nicht Grönlandsfly, sondern Imaqua-Airways.«
     
    Nachdem ich diese Lektionen gelernt und mir noch eine Zeit lang Gedanken gemacht hatte, ob ich nun wirklich matak oder einen Narwal-Penis gegessen hatte, hielten mich die helle Nacht und das ständige Krachen des Eises im Fjord noch lange wach. Für die erste Nacht auf Grönland schlief ich erstaunlich gut, wenn auch der beunruhigende Traum wiederkehrte. Zumindest erinnerte ich mich am nächsten Morgen nur noch schemenhaft an ihn. Geweckt wurde ich vom Lärm der Schlittenhunde, und während ich von meinen eigenen Vorräten frühstückte, belud Hansen bereits den Helikopter mit Kisten, vornehmlich Fisch, Robbenfleisch und Zigaretten. Ich inspizierte vor

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