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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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mächtigen, nahen Inlandeises hatte den aufgetauten Schlamm zwischen den Häusern wieder zu einer festen Masse gefrieren lassen. Der Bodenfrost reflektierte das violette und purpurne Glühen hinter den Fenstern, am Himmel erzeugten Eiskristalle ein unwirkliches Flirren und geisterhafte Streifen am dunkelvioletten Himmel, und hinter den schroffen Gipfeln des namenlosen Gebirges gloste das unheilvolle Licht der verborgenen Mitternachtssonne. Erneut fühlte ich mich weit entfernt von meiner vertrauten Welt, ausgesetzt in einer Siedlung mandeläugiger Außerirdischer, über deren Horizont eine weiße Zwergsonne nie höher als zwanzig Grad stieg und alles Leben unter einem Mantel aus Eis und Kälte zu ersticken versuchte.
    »Mr. Silis?«
    Überrascht wandte ich mich um und blickte in ein Gesicht, das aussah, als verkörpere die dazugehörige Person ein von der dänischen Krone subventioniertes Erik-der-Rote-Memorial. Alles, was meinem Gegenüber zu seinen langen Haaren, dem wilden, struppigen Bart und seiner mächtigen Statur noch fehlte, um den optischen Eindruck zu vervollständigen, war ein gehörnter Helm.
    »Mein Name ist Hansen«, stellte sich der Fremde vor. »Sven Hansen.«
    »Poul Silis.« Ich schüttelte seine ausgestreckte Hand. »Ich glaubte schon an ein Komplott.«
    »Tut mir Leid, aber ich hatte Ärger mit der Maschine und schaffte es nicht eher zurück. Wo ist Ihr Gepäck?«
    Ich nickte zum offenen Hauseingang hin, aus dem noch immer eine Dampf- und Qualmwolke in den Nachthimmel quoll.
    »Waren Sie den ganzen Abend dort drin?« Hansen wirkte amüsiert.
    »War das etwa ein Fehler?«
    »Nein, im Gegenteil. Ich wundere mich nur, dass Sie noch allein sind. Eine Tanzpartnerschaft endet nur selten im Saal.«
    »Ich habe mich nicht um eine Bekanntschaft bemüht.«
    »So?« Hansen klopfte gegen meine Brust. »Grönlandzauber gegen Einsamkeit, was?«
    Ehe ich etwas erwidern konnte, stapfte er in den Schuppen und suchte mein Gepäck, während ich meine Hand unter das Hemd zu dem Amulett des Eskimomädchens wandern ließ.
    Woher wusste der Kerl davon?
     
    Hansen betrieb neben seinem Hauptbroterwerb als Pilot den einzigen ›Supermarkt‹ in Mestersvig, wie er mir auf unserem Marsch durch den Ort erzählte. Das bedeutete, dass es bei ihm außer Schaf- und Robbenfleisch, Fisch, Hühnern, Fellen für Kleidung, Brot, Eiern, Zigaretten und Alkohol auch die einzige Tageszeitung, Waffen für die Jagd, Hundeschlitten, Zaumzeug, Schreibwaren und Schulbücher gab. Außerdem besaß er im Ort eine Tankstelle (vorwiegend für Motorschlitten und ATCs) und natürlich die unentbehrliche Ergänzung zu seiner Pilotenlizenz: seinen Helikopter.
    In dieser Nacht aß ich zum ersten Mal in meinem Leben matak, flüchtig angebratene Narwalhaut, die einen leichten Nussgeschmack besaß. Besser gesagt den Geschmack von Lebertran. Innen war sie noch roh und schimmerte bläulich-weiß. Nach ersten zaghaften Bissen unter den amüsierten Blicken zweier Inuit schmeckte sie angenehm, wenngleich sie äußerst zäh und gewöhnungsbedürftig war. Hansens erwartungsvolles Gesicht entspannte sich, und er warf den Einheimischen einen eindeutigen Blick zu. Womöglich hatte er mit ihnen gewettet, ob ich das Zeug essen würde oder nicht. Dem älteren der beiden, Ruono, gehörte das Haus. Der jüngere hieß Anuka und war wohl Ruonos Sohn.
    Anuka gab sich nicht sonderlich viel Mühe, seine Antipathie gegen mich zu verbergen. Ein Däne war in Grönland eben nicht mehr als ein Däne. Ich hätte auch ein Bewohner von Schloss Amalienborg sein können, Anuka hätte mich auf die gleiche Weise betrachtet.
    In Ruonos Hütte reihten sich Pelze von Polar- und Blaufuchs über abgegriffenen Lederfolianten im Bücherregal. Daneben fielen mir die zahlreichen tupilaks auf, kleine, groteske Figuren aus Speckstein. Auf dem Sofa lag ein Eisbärenfell, das Feuer im Kohlenherd flackerte durch die Kochringe und warf zuckende Lichter auf die etwa zehn Paar Wollsocken, die zum Trocknen an einem Gestell von der Decke hingen.
    Die meisten, die eine Familie versorgen mussten, waren Jäger oder ›Großfänger‹, wie es hier hieß. In der Regel übernahm man diesen Lebensweg von seinem Vater, der dann auch der Lehrmeister wurde und die jahrhundertealten Erfahrungen im Überleben weitergab. Die meisten Inuit wählten die Freiheit zur Einsamkeit und Kälte und vielleicht zu einem frühen Tod im Kajak. Draußen heulten Ruonos Hunde, acht bissige Halbwölfe, die jeden Menschen angingen, der

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