Imagon
unentwegt auf das Eis, um im letzten Moment noch einer Bodenwelle ausweichen zu können. Während ich das Gefühl hatte, auf einem frisierten Elektrorasenmäher zu sitzen, kam der Tempel quälend langsam näher. Jeder Sprung über eine Bodenverwerfung ließ den Motor beim Abheben der Kufen wild aufröhren; ein Schweif hochgewirbelter Eiskristalle wehte hinter dem Schlitten her. Meine Versuche, per Funk mit DeFries Kontakt aufzunehmen oder jemanden oben in der Station zu erreichen, blieben ohne Erfolg. Entweder war das Funkgerät defekt, oder die Verbindung war ausgerechnet jetzt gestört. Vielleicht hörte ich wegen des dröhnenden Motors auch die Stimmen nicht.
Ich hatte den Lastschlitten entladen und Chapmann an seinem Anorak hineingezerrt wie ein Stück Vieh. Mir hatte davor gegraut, seinen Körper anzufassen, aus Angst, dieses Ding, das in ihn eingedrungen war, könne dabei einfach in mich übersiedeln, sobald ich seine Haut berührte. Der Amerikaner war nicht mehr bei Bewusstsein. Vielleicht war er auch schon tot, ich wusste es nicht. Womöglich war er während der letzten Minuten an den Folgen des Kreislaufkollapses gestorben, den er offensichtlich erlitten hatte. Oder an denen unserer unsanften Rückfahrt. Der Lastschlitten war kaum gefedert und bockte und holperte so laut hinter dem Skidoo her, dass es mir bei der Vorstellung, an Chapmanns Stelle darin zu liegen, fast selbst weh tat. Es war kein vorbildlicher und erst recht kein sanfter Krankentransport, aber das war mir egal. Es ging um wertvolle Zeit, um jede Sekunde. Der Amerikaner brauchte dringend medizinische Hilfe; Adrenalin oder Dopamin und vor allem Wärme. Ich hatte vor der Rückfahrt meinen Anorak ausgezogen, um den Schlittenboden für Chapmann ein wenig zu polstern, und der eisige Fahrtwind stach inzwischen wie Trockeneisregen auf meiner Haut.
Als hätte ich eine unsichtbare Lichtschranke passiert, schlüpfte wie gewohnt Maqi aus dem Tunneleingang, ehe ich mich dem Tempel bis auf einhundert Meter genähert hatte. Vielleicht war mein Funkspruch doch durchgekommen, und DeFries hatte, nachdem lediglich Motorbrummen aus dem Lautsprecher gedrungen war, den hünenhaften Inuit nach oben geschickt, um nach dem Rechten zu sehen. Maqi wartete still, die Hände in den Taschen seiner Fellhose, und ließ sich selbst durch meine rasante Anfahrt und den Anschein, ich würde allein zurückkehren, nicht aus der Ruhe bringen. Selbst, nachdem ich den Skidoo schlingernd zum Stehen gebracht hatte und den Eskimo heranwinkte, rührte er sich nicht von der Stelle. Aus der Ferne erklang das Knattern eines sich nähernden Helikopters. Hansen!, hoffte ich. Dem Himmel sei Dank. Doch die Libelle warnoch außer Sichtweite.
»Ruf Jon!«, überschrie ich den Lärm, den der Kompressor und der Helikopter nun im Duett erzeugten. »Er soll den Piloten anfunken. Chapmann braucht sofort einen Arzt! Vermutlich eine Synkope. Etwas hat ihn …« Ich hielt vor Maqi, der reglos dastand, inne. Der Kerl schien mich nicht zu verstehen, schien gar nicht zu begreifen, worum es ging. Seine Augen blickten ausdruckslos. Er schien überhaupt nichts zu begreifen, dieser grönländische Zombie. Als hätte ich ein Kind vor mir, erklärte ich in möglichst ruhigem Tonfall: »Chapmann liegt hinten im Schlitten und ist bewusstlos. Rühr ihn nicht an, verstanden? Auf keinen Fall seine Haut berühren! Ich gehe hinunter und hole DeFries.«
»Nein!«
Es war das erste Mal, dass ich Maqi sprechen hörte. Für eine Sekunde war ich verdutzt, dann wurde mir bewusst, dass er mich die ganze Zeit über sehr wohl verstanden hatte, jedes einzelne Wort, und auch, dass Chapmanns Leben auf dem Spiel stand. Seine trotz allem beharrliche Passivität brachte mich zur Weißglut.
»Dann geh und hol’ DeFries, verdammt noch mal!«, schrie ich ihn an. »Worauf wartest du? Chapmann ist dort drüben am Verrecken!«
Maqis Miene sagte: Na und?
»Herrgott …!« Ich drängte ihn beiseite und ging auf den Eingang zu. Zumindest einen Schritt weit. Maqis Pranke klatschte auf meine Brust und hinderte mich am Weiterlaufen. Ich funkelte den Inuit an und sah den entschlossenen Ausdruck in seinen Augen. Freiwillig würde er mich keinen Schritt weiterlaufen lassen, dieser loyale Hund. In diesem Augenblick platzte mir der Kragen. Ich umklammerte mit der Linken seine Hand und presste Daumen und Mittelfinger an der Stelle in sein Fleisch, wo sein eigener Daumen und sein Zeigefinger zusammenliefen. Mein Glück, dass er keine Handschuhe
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