Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
Vom Netzwerk:
eigene Art, möglichst viel Abstand zwischen sich und das Schluckloch zu bringen, doch auch er vermochte nicht auf beiden Beinen zu bleiben. Wir bewegten uns über den Eissee wie zwei in Panik geratene Schimpansen.
    Der Boden unter meinen Füßen krachte und knirschte, weitlaufende Sprünge schossen durch das Eis. Aus dem Schluckloch blies ein Orkan wie aus einem Flugzeugtriebwerk. Irgendetwas schien mit rasender Geschwindigkeit durch den Eisschacht emporzusteigen und die verdrängte Luft vor sich herzuschieben, und im Geiste sah ich bereits eine alles versengende Flammensäule aus entzündetem Gas in den Himmel steigen. Gleichzeitig betete ich, dass der Boden unter meinen Füßen nicht explodieren oder einstürzen möge. Meine eigene Hohlraumtheorie wurde zum Wahnbild. Es waren höchstens dreißig Sekunden vergangen, seit wir das erste Vibrieren wahrgenommen hatten, doch es kam mir vor, als taumelte ich schon seit Minuten in panischer Furcht vor dieser unfassbaren Bedrohung davon. Ich hatte kein Auge mehr für Chapmann, wusste nicht, wo er war und ob ihn nicht längst eine plötzlich aufklaffende Eisspalte verschlungen hatte. Ich selbst dürfte kaum mehr als fünfzig Schritte weit gekommen sein, als hinter mir unversehens ein gewaltiges Zischen und Brausen erklang. Ich stieß mich ab, um wenigstens noch ein paar Meter weiter auf dem Bauch vor dem Unheil davon zu rutschen, dann sah ich mich zum ersten Mal um.
    Aus dem Schluckloch schoss ein mächtiger Geysir aus dampfendem Schmelzwasser über einhundert Meter in die Höhe. Fassungslos starrte ich auf das Schauspiel, entdeckte dabei auch Chapmann, der einen Steinwurf entfernt ebenfalls auf dem Boden hockte und zu der Wassersäule hinaufblickte. Irgendetwas Seltsames schimmerte innerhalb der Gischt, wie Sonnenlicht, das von Tautropfen reflektiert wurde. Aber der Himmel war grau, die Sonne nicht einmal schemenhaft zu erkennen. Das, was sich in der Wassersäule befand, leuchtete aus sich heraus. Nach wenigen Sekunden fiel der Geysir langsam wieder in sich zusammen, und so plötzlich wie der Spuk begonnen hatte, war er auch schon wieder vorbei. Das Beben hatte aufgehört. Stille herrschte; unnatürliche, allumfassende Stille.
     
    »Poul!?«, vernahm ich eine leise, verzerrte Stimme. Ich sah zu Chapmann hinüber.
    Der Amerikaner erhob sich schwerfällig und klopfte seine Kleidung ab, wandte mir jedoch den Rücken zu. »Poul, hören Sie mich?«, erklang es erneut. Erstjetzt erkannte ich, dass es sich um DeFries’ Stimme handelte. Instinktiv griff ich an meine Brust, sah das Funkgerät aber im selben Augenblick ein paar Meter von mir entfernt auf dem Eis liegen. Es musste mir bei meinem verzweifelten Hechtsprung aus dem Anorak gerutscht sein.
    »Ich höre Sie«, krächzte ich hinein, nachdem ich es aufgehoben hatte. »Alles in Ordnung.«
    »Alles in Ordnung?«, schnappte DeFries. »Wir dachten hier, wir müssten alle draufgehen, verdammt noch mal!« Ich blickte zum Mount Breva, erkannte in der Ferne vier oder fünf winzige Gestalten neben dem Gebäude. »Um ein Haar wäre der gesamte Komplex eingestürzt«, wetterte DeFries. »Was zum Teufel war bei euch dort draußen los? Ist jemand verletzt?«
    Chapmann humpelte leicht, als ich erneut zu ihm hinübersah, reckte jedoch einen Daumen in die Höhe.
    »Wir sind okay«, beruhigte ich DeFries und erzählte stockend, was sich ereignet hatte.
    DeFries murmelte etwas auf Grönländisch. Ich konnte nicht sagen, ob er fluchte oder mit einem der Inuit sprach. »Packen Sie Ihren Krempel zusammen und kommen Sie sofort zurück«, befahl er mir.
    »Ich werde noch eine Probe des Wassers nehmen …«
    »Tun Sie, was ich sage!«, unterbrach mich DeFries ungehalten. »Kommen Sie zurück, und zwar sofort! Provozieren Sie es auf keinen Fall ein zweites Mal!«
    Ich benötigte ein paar Sekunden, um den letzten Satz zu erfassen. »Bitte?«, fragte ich verständnislos. Ich erhielt keine Antwort, das unmissverständliche Zeichen, dass DeFries keine weitere Diskussion duldete. Er hatte die Verbindung abgebrochen.
    Provozieren Sie es kein zweites Mal …
    Was meinte DeFries? Das Schluckloch? Das erschien mir in dieser Situation reichlich albern. Wahrscheinlich hatte er sich in seiner Erregung versprochen oder gedankenlos wiederholt, was einer der Inuit zu ihm gesagt hatte.
    Ich folgte Chapmann, der ebenso bestürzt wie ich zum Schluckloch zurückschlich. Nach zwei Dritteln der Distanz hatte ich zu ihm aufgeschlossen und informierte ihn über

Weitere Kostenlose Bücher