Imagon
Lied, und irgendwann stimmte ich in den Choral mit ein. Ich sang mit geschlossenen Augen – und vergaß.
Dann, während ein immer intensiveres Summen die Luft erfüllte, fühlte ich mich plötzlich emporgehoben. Irgendetwas, das sich hinter mir befunden haben musste, hielt mich umklammert. Ich achtete nicht darauf, was es war, sondern fühlte mich seltsam glücklich darüber, dass es geschah. Ich vernahm das Flattern von Flügeln und spürte den Griff, aber ich empfand weder Schmerz noch Furcht. Die Fesseln fielen von mir ab, als ich über die Spitze der Steinsäule glitt, höher und höher und noch immer singend. Ich wurde hinauf zu den Tempeln getragen; der Gesang der Menschen verlor sich in der Tiefe. Die Wesen auf den Baikonen starrten mir mit ihren fetten Gesichtern entgegen … und im Schwindel entzückter Erwartung und Ekstase fiel der magische Kokon von mir ab, und ich sah!
Ich sah!
Ich riss die Augen auf und blickte in die vor Anstrengung geröteten Gesichter von Rijnhard und Maqi. Wo ich war, erkannte ich im ersten Moment nicht. Mir wurde nur bewusst, dass ich mit weit aufgerissenem Mund auf dem Rücken lag, und es war mir peinlich. Maqi und Rijnhard sahen mich mit ernsten Mienen an, tauschten dann einen knappen Blick und richteten sich auf.
DeFries tauchte in meinem Sichtfeld auf. Er setzte sich neben mich (auf eine Bettkante, wie ich nun feststellte), krempelte meinen rechten Ärmel hoch und setzte eine Spritze an, wobei er mich argwöhnisch beobachtete. »Adrenalin«, erklärte er vorsorglich. »Zur Kreislaufstabilisierung.« Ich spürte einen Einstich, kalte Flüssigkeit wanderte meine Vene empor. Meine Augen schmerzten, ich vermochte sie kaum offen zu halten. Was ich von meiner Umgebung erkannte, musste das Innere eines Schlafcontainers der Breva-Station sein.
»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich DeFries.
»Ich habe Durst«, antwortete ich heiser. Meine Kehle brannte und war staubtrocken. »Warum halten sie mich fest?«, fragte ich Rijnhard, als ich merkte, dass er immer noch meine Schultern umklammert hielt.
»Sie haben fantasiert und um sich geschlagen.« Er ließ mich vorsichtig los, als befürchte er, dass ich ihm im Affekt einen Schwinger versetzen könnte. DeFries reichte mir ein Glas Wasser, das ich hastig leerte.
»Wie lange war ich weg?«
»Über zwanzig Stunden.«
»Und Chapmann? Wie geht es ihm?«
DeFries gab Maqi ein stummes Zeichen. Der Inuit kratzte sich hinter dem Ohr, verzog das Gesicht und erhob sich. Er murmelte etwas auf Inuktitut, worauf ihm jemand in derselben Sprache antwortete. Erst da merkte ich, dass sich noch weitere Personen im Raum befanden; zwei Inuit und Hansen. Der Pilot musste Chapmann und mich hinauf ins Lager geflogen haben. Maqi drängte alle drei aus dem Raum, schloss die Tür und postierte sich mit verschränkten Armen davor. Ich fragte mich, ob er eigentlich noch eine andere Funktion besaß, als Türen und Zugänge zu bewachen. Immerhin wusste ich nun, dass er sprechen konnte. Außer Maqi und DeFries blieb nur Rijnhard.
»Ist Chapmann tot?«, hakte ich nach.
»Nein.« Rijnhard nahm mein Handgelenk und fühlte meinen Puls. »Noch nicht. Können Sie sich erinnern, was passiert ist?« Er sah auf seine Uhr.
Ich versuchte, mir das Geschehene in Erinnerung zu rufen. Chapmann, die Gallertbrocken, diese unbeschreibliche Angst im Inneren der Eishalle, das Relief … doch alles wurde überlagert von der Intensität des jüngsten Traumes. Was ich gesehen hatte, erschien mir weitaus realer als die Ereignisse zuvor. Mein gesamtes Denken wurde beherrscht von dieser letzten Vision; den Blicken dieser Wesen im Inneren …
Es hatte etwas Abnormes an diesen Tempelbewohnern gehaftet, an ihren Körpern – und dem Dahinter; ein fratzenhaftes Zerrbild menschlicher Anatomie, verdeckt von einem Blendwerk aus übersteigerter Ästhetik und Würde. Ich hatte die aufgedunsenen, wurmartigen Körper gesehen und für einen Augenblick in ihre wahren Gesichter geblickt. Und ich hatte die Wesen gesehen, die hinter ihren Reihen standen; die riesigen, krabbenartigen, geflügelten Kreaturen im Schatten …
Es konnte – es durfte solche Geschöpfe nicht geben!
Stockend begann ich schließlich von den Geschehnissen im Krater zu berichten, musste aber immer wieder abbrechen, um mich zu konzentrieren. Die Erinnerung an den Traum herrschte vor. Unentwegt vernahm ich den Gesang der Menschen, hatte die Anti-Gesichter der Tempelbewohner und die grauenhaften, lauernden Geschöpfe
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