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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Gesicht. Dabei musste ich mich an der Wand abstützen, um nicht umzukippen.
    »Was ist das für ein Gefühl, Poul?« DeFries und der Raum zerflossen hinter meinen Tränen zu einem Kaleidoskop aus Formen und Licht.
    »Ich … kann es nicht beschreiben!«, keuchte ich. »Wie lähmende Angst …«
    Ich schleppte mich an DeFries vorbei bis zu der Säule in der Mitte der Halle. Dort stützte ich mich ab und starrte auf das mannshohe, vom Eis befreite Relief, das an der Tempel-Außenwand prangte. Die Oberfläche der Wand wirkte porös wie Bimsstein. Trat womöglich ein lähmendes, gar tödliches Gas durch die Mauern aus, das sich im Laufe der Jahrtausende im Inneren des Tempels gebildet hatte? Warum wurde dann DeFries nicht von seiner Wirkung getroffen? Ich sackte in die Knie. Mir war, als lege sich eine paralysierende Schicht über meinen Verstand, immer schwerer und erdrückender, um alles Denken und Handeln zu ersticken. DeFries und Hagen waren auf einmal bei mir und stützten mich.
    »Was Sie durchleben, hat jeder von uns erfahren müssen«, drang Hagens Stimme an meine Ohren. »Versuchen Sie nicht, sich dagegen zu wehren. Es ist sinnlos.«
    »Seien Sie still und helfen Sie mir«, wies ihn DeFries zurecht.
    Ich war kaum noch Herr meiner Sinne. »Lassen Sie mich los!«, schrie ich und bäumte mich in den Griffen der beiden auf.
    »Ich fürchte, es ist bereits zu spät«, hörte ich DeFries murmeln. »Bringen wir ihn raus.«
    Ohne es wirklich deutlich zu erkennen, glaubte ich in dem Relief jenes Motiv zu sehen, das ich von DeFries’ Fotografien her kannte. Tränenverschleiert nahm ich ein Wirrwarr aus Linien, Kreisen, Bögen und Geraden wahr. Alle Kälte des Kosmos schien von ihm auszugehen und mich zu erfüllen. Ich spürte, wie etwas Grauenhaftes, Unsichtbares meinen gesamten Körper umfasste. Mit einem Aufschrei riss ich mich von DeFries und Hagen los. Im selben Augenblick explodierte in meinem Kopf eine unbeschreiblich grelle Sonne und raubte mir das Bewusstsein.

 
     
     
TEIL DREI
     
     
DER TAALOQ

 
10
     
     
    Ich war umringt von Menschen. Es mochten an die zweihundert Personen sein, die sich in einem weiten Kreis um mich geschart und ihre Blicke zu den hoch in der Steilwand errichteten Felstempeln erhoben hatten. Zum ersten Mal konnte ich mich umsehen, mich bewegen, erkannte meinen Körper – einen menschlichen Körper. Meine einzige Bekleidung bestand aus einem schmutzig-weißen Fell, das man mir um die Hüften geschlungen hatte. An dicken Lederschnüren, die mir um Hals, Arme und Hüften gebunden worden waren, hingen frisch abgetrennte Tierköpfe. Das Blut aus ihren Halsstümpfen rann über meinen Körper und klebte als feucht-kalter Film auf meiner Haut. An dem Riemengürtel um meine Hüften pendelten die Köpfe eines Hasen und eines Lemmings. Den rechten Arm zierten die Häupter eines falkenartigen Raubvogels und eines Erdhörnchens, den linken die eines Schneehuhns und einer Forelle. Der siebte, vor meiner Brust hängende Kopf gehörte einem menschlichen Fötus.
    Angeekelt starrte ich auf den rosafarbenen Schädel. Augen und Mund waren halb geöffnet, und unter der hauchdünnen, fast durchsichtigen Haut schimmerte bläulich sein feines Adergeflecht.
    Beim Anblick des Kopfes erfasste mich ein Gefühl äußerster Bedrohung. Ich wünschte zu erwachen, der Vision zu entfliehen, aber es war mir nicht möglich.
    Aus dem Menschenkordon lösten sich sechs schweigsame, archaisch gekleidete Gestalten. Ihre Köpfe waren unter Masken aus Leder und dem strähnigen Fell von Moschusochsen verborgen. Armlange, geflochtene Haarzöpfe, die wie Tentakel umherpendelten, waren als Kinnbärte an den Masken befestigt. Ich wurde von einem Dutzend Händen ergriffen und zu einer obeliskenartig behauenen, sich zur Spitze hin verjüngenden Säule aus schwarzem Fels geführt, die inmitten eines weiten Steinkreises aufragte. Nachdem man mich daran festgebunden hatte, entfernten sich die Maskierten rasch wieder, als scheuten sie die Nähe zu dem Obelisken – oder zu mir. Ich betrachtete die Menschen, die nun begannen, ihre Körper träge hin und her zu wiegen. Bald erfüllte ein vielstimmiges Summen das Tal, und ich erkannte mich jäh als das Opfer einer heidnischen Zeremonie.
    Der Ton eines Hornes erklang und brach sich in schier endlosen Echos an den Felswänden. Als er in der Ferne verhallt war, stimmte die Menge einen monotonen Gesang an, der in mir nach und nach jegliches Denken unterdrückte. Bald existierte nur noch dieses

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