Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
Vom Netzwerk:
hatte der Schamane bereits einen leisen Gesang angestimmt, den er mit dezenten Trommelschlägen begleitete. Beschwören, singen, schlafen, zur Sonne beten … Ich fragte mich, ob er tagein, tagaus diesen Beschäftigungen nachging – alles für oder gegen den Sternfisch?
    Nach minutenlangem, in sich gekehrtem Trommeln verstummte Talalinqua und legte das Instrument beiseite, wobei er die Augen geschlossen hielt. Er ließ sich von seinem Novizen seinen Fell-Fetisch reichen, gab einen lang gezogenen, kehligen Ton von sich und berührte dabei mit den Händen seine Ohren.
    »Er wissen will, warum Sie gekommen sind«, erklärte Mylius.
    »Sagen Sie ihm, ich brauche seine Hilfe.«
    »Nicht zu ihm«, berichtigte der Grönländer. »Hierher, in sein Land. An diesen Ort.«
    Ich seufzte schwer. »Verlangt er eine wissenschaftliche Erklärung?«
    Talalinqua brabbelte etwas, und Mylius übersetzte: »Er den Grund wissen will, warum Sie seien katutjiqati … wie sagt man? Arbeiten mit dem Feind …«
    Ich überlegte kurz. »Ein Kollaborateur?«
    »Sukattuk.«
    Der Respekt, zu dem ich mich redlich mühte, begann zu bröckeln. »Von was für einem Feind redet er?« Mylius zuckte die Achseln. »Von DeFries? Dem Institut? Sagen Sie diesem Kerl, ich bin kein Kollaborateur, und was ich hier mache, ist mein gottverdammter Job!«
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Mylius alles wortgetreu übersetzte, aber Talalinquas Reaktion hätte es vermuten lassen können. Der Schamane brachte den Grönländer mit einer unwirschen Geste zum Schweigen, deutete mit seinem Fetisch auf meine Brust und zischte: »Uttaq arnguaq!« Es folgte ein ungehaltener Redeschwall, den Mylius äußerst diskret mit »Er glaubt Ihnen nicht« übersetzte, ehe er hinzufügte: »Er sagt, Ihr arnguaq verrät Sie!«
    »Was soll das sein?«, ärgerte ich mich. »Mein Gesicht? Mein Charisma?«
    »Das, was Sie tragen um den Hals.« Mylius tippte sich mit den Fingerkuppen an die Brust.
    Ich musterte Talalinqua, der nach wie vor wie im Halbschlaf vor mir saß, und fasste an meine Brust. Erst Hansen, nun der Schamane. Besaßen hier alle den Röntgenblick? Wortlos öffnete ich den Anorak-Kragen und zog beide Talismane heraus. Talalinqua öffnete kurz die Augen und fixierte die Anhänger, wobei seine Miene unverhohlenen Abscheu ausdrückte. Er äußerte ein paar Worte, dann schloss er die Augen wieder.
    Mylius sagte: »Er wissen will, warum Sie tragen Sedmeluqs Kopf.«
    »Was?« Ich musterte Naunas Amulett. »Wessen Kopf?«
    Der Grönländer antwortete nicht, sondern hatte den Blick von mir abgewandt. Auch Talalinquas Novize sah zu Boden. Der Schamane schien endgültig eingeschlafen zu sein. Du, der du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren … Hohe Furcht. Ich schüttelte den Kopf. Dann begann ich – des lieben Friedens Willen – zu erzählen; von meinem Beruf, von Nauna, von meinen Visionen und DeFries’ Definition einer übernatürlichen, sich meiner Träume bemächtigenden Wesenheit. Den Begriff ›Esh’maga‹ erwähnte ich nicht, in der stillen Hoffnung, der Schamane habe einen eigenen Namen für Wesen dieser Art.
    Mylius dolmetschte tapfer, obwohl er bei der Schilderung meiner Träume hin und wieder ins Stocken geriet und mir zweideutige Blicke zuwarf. Ich ärgerte mich darüber, denn im Grunde ging mein Innenleben niemanden etwas an. Doch gleichwohl war ich es, der Talalinquas Hilfe suchte, und somit lag es an mir, mich zu erklären. Nebenbei ließ ich die Talismane wieder unter meiner Kleidung verschwinden, da ihr Anblick unter den Inuit ein spürbares Missbehagen hervorrief, das für mich nicht nachvollziehbar war. Lediglich der Name Sedmeluq erzeugte einen unangenehmen Nachhall in mir.
    Als der Schamane meine Geschichte und letztlich auch den Grund für mein Anliegen gehört hatte, glaubte ich zum ersten Mal so etwas wie Unentschlossenheit, ja fast schon Bestürzung in seinen zusammengekniffenen Augen zu erkennen. Dieser Ausdruck währte nur Sekunden, dann hatte Talalinqua sich wieder gefasst. Er begann tonlos zu murmeln, und erst als Mylius zu übersetzen begann, merkte ich, dass seine Worte kein Gebet, sondern an mich gerichtet waren.
    »Es selten vorkommen«, dolmetschte der Grönländer die Rede des Alten, »dass ein gelehrter Fremder aus ferner Kultur sucht die Kräfte eines Angakoq. Dein Volk ist gekommen vor mehr als zweihundert Jahren, hat seine Kirchen gebracht in unsere Dörfer, seinen Glauben und den Alkohol, der mein Volk krank macht. Ich wurde

Weitere Kostenlose Bücher