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Imagon

Imagon

Titel: Imagon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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geboren zu einer Zeit, als mein Volk noch hat gelebt unter Grassoden im Erdreich, vor mehr als siebzig Jahren. Als Tranlampen aufhellten stickige Wohnplätze. Als nackte Körper sich wärmten, um zu überleben den Winter von vier Monaten Finsternis. Und noch mehr Monate, in denen erfror alles Leben in tiefer Kälte von Piteraq, der mit Urgewalt wehte über das Land. Monate ohne Fett zum Essen, Speck für Feuer, frische Sehnen zum Nähen, neue Felle für Kleidung, Därme für Anoraks, Häute für Kajaks, Knochen für Harpunen.
    In Hungersnöten wir mussten töten unnütze Esser, neugeborene Mädchen. Alte gingen freiwillig, sprangen ins Eismeer, stürzten sich vom Fels oder verschwanden in Schneetreiben von Piteraq. Für dein Volk unsere Welt war grausam. Doch diese Welt Jahrtausende lang hat existiert, auch noch, als der erste von euch betreten hat die Küste. Tausende von Jahren Angakoqs gewesen die allerhöchsten Würdenträger, zuständig für Jagdglück, Wetter und Heilungen. Wir festgelegt hatten, wie getauscht wurden die Frauen für Beischlaf und welche anzubieten waren den Gästen, um zu verhindern Entartung im Clan.
    Heute wir sind für euch nur noch Verbündete von Geistern und Dämonen. Eure Lehrer und Priester uns rauben die Jahrtausende des Wissens … Aber nun ihr selbst seid es, die herbeiführen euer Schicksal. Die Äußeren Wesen werden sein eure Meister und das, was sie halten gefangen seit unendlicher Zeit!«
    Talalinqua senkte den Kopf, und Mylius verstummte. Minutenlang herrschte beklemmendes Schweigen, dann begann der Schamane erneut zu sprechen. Der Grönländer übersetzte: »Ich bin begegnet dem aggaujaq taqrak, den ihr habt gerufen. Der unter dem Eis wartet, um zu befreien jenen, dem du dienst und dessen Zeichen du trägst. Ich dir deinen Wunsch erfüllen – und dich führen zu Sedmeluq.«
    Ohne zu zögern, wies Talalinqua seinen Novizen an, ihm bestimmte Beutel und Tierblasen zu reichen und forderte mich auf, mich meiner Pullover, meines Unterhemds und der Kamiken zu entledigen. Dann zog er seine eigene Kleidung aus und entblößte einen leichenblassen Oberkörper, über den sich speckige, schlaffe Haut spannte. Ich machte mir seit einigen Minuten fieberhaft Gedanken, ob es tatsächlich eine gute Idee gewesen war, den Schamanen aufzusuchen. Mit gemischten Gefühlen ließ ich mir von Talalinqua das Gesicht mit einem farblosen, stechend riechenden Fett einreiben, das unangenehm auf der Haut brannte und meine Augen reizte. Während der gesamten Prozedur intonierte sein Novize einen entnervenden Trommelgesang, in den auch Talalinqua hin und wieder einstimmte. Mit einer anderen Paste – dunkelviolett diesmal – balsamierte der Schamane meine Hände und Unterarme, dann zeichnete er mit den Fingern abstrakte Symbole auf meinen Oberkörper. Ich roch am Ende wie ein Seehundkadaver und betete, dass der Duschcontainer nach dieser Zusammenkunft nicht besetzt wäre. Nachdem Talalinqua seinen Körper in gleicher Weise gesalbt hatte, goss, schüttete und presste er kleine Mengen von Fetten, Ölen und getrocknetem Irgendwas in die Knochenschale, verrührte alles mit einem Tran, den er aus einem Schlauch aus gegerbter Robbenhaut hinzugoss, und entzündete den Sud ganz unmystisch mit einem Streichholz. Ich zog instinktiv meine Arme an, da ich befürchtete, die stinkende Substanz auf meinem Körper könnte ebenfalls Feuer fangen. Die zähflüssige, schwarze Masse in der Schale brannte unter einer ruhigen Flamme, die eine fingerdicke Rauchsäule zum Kuppeldach sandte. Innerhalb weniger Augenblicke war das gesamte Iglu von leicht berauschendem Brodem erfüllt.
    Schließlich saß ich Talalinqua im Schneidersitz gegenüber, die Knochenschale in unserer Mitte, hielt seine Hände in meinen und fühlte mich wie nach meinem ersten Joint und vor meinem ersten Fallschirmsprung gleichzeitig. Mein Herz raste, jegliches Blut war mir aus den mittlerweile eiskalten Händen gewichen, und der Rauch vernebelte meinen Verstand. Ich hatte keine Ahnung, was der Schamane in diesem Zustand noch mit mir anfangen wollte, und es war mir völlig gleichgültig. Mit jedem Atemzug verstärkte sich meine Benommenheit. Ich bekam einen Tunnelblick, wobei sich die Gesichter der Inuit wie in einem Kaleidoskop zu drehen begannen. Allerdings wurde das bunte Licht am Ende des Tunnels immer kleiner, statt auf mich zuzukommen.
    Ich hörte Talalinqua reden, dann Mylius’ Stimme, die sagte: »Ihr Geist eins werden mit seinem Geist. Sie dorthin

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