Imagon
besitzen, die Spirale zu verlassen oder den Sturz aufzuhalten. Alles lief in jeder Beziehung falsch. Es durfte nicht sein. Jedenfalls nicht so! Aber es geschah dennoch. Gab es dafür bereits eine Formel? Willkommen in der Realität, Akademiker. Oder hatten wir die Realität längst verlassen? Ich versuchte mir einzureden, alles sei nur eine furchtbare Laune der Natur; der Krater, die Gallertwesen, Chapmanns Schicksal, der Tempel, meine Träume, DeFries’ fragwürdige Darstellung der Dinge …
Die Esh’maga.
Der Name ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Was war ein Esh’magone? Wie sah ein solches Wesen aus? Und was wollte es von mir? Uttaq, schoss es mir durch den Kopf. Günstling. Was wusste dieser Talalinqua davon? Und woher wusste er es? Seit DeFries’ Erzählung über Imagonen und das Geschöpf unter dem Eissee zweifelte ich, ob ich all das, was hier geschah, nicht vielleicht nur träumte. Wie konnte ich mir dessen sicher sein, wenn meine Träume realer erschienen als die Wirklichkeit? Oder wurde ich nur langsam verrückt?
Sieh, wohin dich dein Ehrgeiz geführt hat, höhnte die Stimme in meinem Kopf. Du bist ein Sklave geworden, ein Untertan auf Lebenszeit – und weit, weit darüber hinaus. Dein heiliger Gral ist der Schierlingsbecher eines Monsters, und du hast daraus getrunken. Du bist schwach geworden, und jetzt gehörst du ihm! Das ist absolut gerecht!
Als ich den Laptop im Rollfach verstaute, fiel mein Blick auf Naunas Briefe. Ich zog die Kuverts heraus, legte sie vor mir auf den Tisch und blickte eine Weile unentschlossen auf den unbeschrifteten Umschlag. Standen alle Antworten auf meine Fragen in diesem zweiten Brief? War der Zeitpunkt gekommen, ihn zu öffnen und zu lesen? Ich legte meine Hand auf das Kuvert, als könne ich die Antwort erfühlen. Dann griff ich nach dem geöffneten Umschlag und zog jenen Brief heraus, den ich während der letzten Wochen so oft gelesen hatte.
Lieber Poul,
heißt es nicht, der Mutter Segen baut den Kindern Häuser – doch des Vaters Fluch reißt sie nieder? Wenn Sie diese Zeilen lesen, ist geschehen, was unweigerlich geschehen musste. Bis dahin bleibt meine größte Angst, dass wir uns nicht mehr rechtzeitig begegnen werden. Falls doch, so seien Sie über meinen Tod nicht traurig. Die Ärzte waren von Anfang an machtlos, denn das, was für mein Schicksal verantwortlich ist, ist nicht von dieser Welt. Aber so unglaubwürdig es angesichts meines Todes für Sie klingen mag: Wir werden einander wiedersehen. Wahrscheinlich irritiert Sie die Gewissheit, mit der ich das schreibe. Heute schon zu versuchen, Ihnen die Zusammenhänge zu erklären, würde Sie nur vor den Kopf stoßen und Sie verwirren. Ich möchte nicht, dass Sie etwas Falsches von mir denken. Bitte machen Sie sich nicht zu viele Gedanken über das, was Sie hier lesen, sondern folgen Sie Ihrer Bestimmung. Sie wird Sie in meine Heimat führen, selbst wenn dies für Sie undenkbar erscheint. Wehren Sie sich nicht dagegen. Es ist ebenso aussichtslos wie mein Kampf gegen die Krankheit, der ich ausgeliefert war. Die Zukunft – Ihre Zukunft – wird all Ihre Fragen beantworten. Sie ist vorherbestimmt.
Ich möchte Sie noch einmal bitten, meinen zweiten Brief vorerst nicht zu öffnen. Sie werden erkennen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, ihn zu lesen. Ich habe Ihnen meinen Talisman beigelegt. Nehmen Sie ihn und tragen Sie ihn, wohin auch immer Sie gehen, denn er wird Ihnen eines Tages das Leben retten.
Und bitte vergessen Sie mich nicht!
Ihre Nauna
Die abwärts wandernde Spirale im Krater … Schall zu Schall, Rauch zu Rauch. Meine Bestimmung und Naunas Prophezeiung … Asche zu Asche, Staub zu Staub …
Ich war aufgestanden und an eins der Fenster getreten. Mein Container stand am westlichen Ende der Station. Zwischen ihm und dem Krater lagen nur noch die Wetterstation, der Sendemast, ein Rudel bissiger Halbwölfe und eine Handvoll Iglus. Noch befand ich mich in der Burg der Wissenschaft – aber vom Aberglauben trennte mich nur ein Steinwurf …
Kaum zehn Minuten später war ich auf der Suche nach Mylius, fand ihn aber weder im Aufenthaltsraum noch in den Arbeitsräumen. Als ich durch den engen Kreuzkorridor lief, um einen Blick in die Schlafcontainer zu werfen, wurde ich Zeuge eines Gesprächs zwischen Rijnhard und Hansen, die sich im Satellitenbetriebsraum unterhielten. Ob noch weitere Personen anwesend waren, konnte ich nicht erkennen, da der Raum von meinem Standort aus nicht einzusehen war.
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