Immer für dich da (German Edition)
gottverdammte Tragödie«, sagte ihre Mutter und nahm einen langen Zug von ihrer Zigarette.
»Warum?«, fragte Tully. Warum liebst du mich nicht, wollte sie eigentlich fragen, doch bevor sie ihren Schmerz in Worte fassen konnte, war der Gottesdienst zu Ende und die Trauergäste strömten auf den Parkplatz. Tully wandte kurz den Blick ab, um ihre Tränen wegzuwischen. Als sie sich wieder umdrehte, war ihre Mutter verschwunden. Die Frau vom Sozialdienst gab sich sehr amtlich. Sie versuchte zwar, das Richtige zu sagen, aber Tully bekam es doch mit, als sie im Flur vor Tullys Zimmer auf die Uhr blickte.
»Ich verstehe einfach nicht, warum ich meine Sachen zusammenpacken soll. Ich bin doch schon fast achtzehn. Grandma hat keine Hypothek auf dem Haus – das weiß ich, weil ich dieses Jahr alle Rechnungen bezahlt habe. Ich bin alt genug, allein zu leben.«
»Der Anwalt wartet bereits auf uns«, erwiderte die Frau nur. »Bist du bereit?«
Tully legte den Stapel mit Kates Briefen in ihren Koffer, schloss den Deckel und ließ die Verschlüsse zuschnappen. Da sie die Worte Ich bin bereit einfach nicht über die Lippen brachte, nahm sie nur den Koffer und warf sich ihre Makramee-Handtasche über die Schulter. »Ich glaube, ja.«
»Gut«, sagte die Frau und ging zur Treppe.
Tully folgte der Frau durch das jetzt so stille Haus, dann auf die Straße, wo ein alter gelber Ford Pinto stand.
»Leg deinen Koffer auf den Rücksitz.«
Tully gehorchte und setzte sich auf den Beifahrersitz.
Als die Frau den Wagen startete, dröhnte ohrenbetäubende Musik aus dem Radio. Es war David Souls »Don’t Give Up on Us«. Sie schaltete sie sofort aus und murmelte: »Tut mir leid.«
Tully dachte, der Song sei Entschuldigung genug, daher zuckte sie nur mit den Schultern und schaute aus dem Fenster.
»Habe ich dir schon gesagt, wie sehr mir das mit deiner Großmutter leidtut?«
Tully starrte auf ihr verzerrtes Spiegelbild. Es war, als würde man auf ein farb- und substanzloses Negativ ihres Gesichts blicken. Genau so fühlte sie sich innerlich.
»Nach allem, was man so hört, war sie eine außergewöhnliche Frau.«
Darauf gab Tully keine Antwort. Ihr hätte ohnehin die Stimme versagt. Seit der Begegnung mit ihrer Mutter war sie innerlich wie ausgetrocknet. Leer.
»So, da wären wir.«
Sie parkten vor einer gepflegten viktorianischen Villa in der Innenstadt. Ein Schild an der Front verkündete: BAKER UND MONTGOMERY, RECHTSANWÄLTE.
Tully brauchte einen Moment, um sich zu rühren. Als sie schließlich ausstieg, bedachte die Frau sie mit einem sanften, verständnisvollen Lächeln.
»Du musst deinen Koffer nicht mitnehmen.«
»Ich möchte es aber, danke.« Wenn Tully eins wusste, dann, wie wichtig es war, immer einen gepackten Koffer zu haben.
Die Frau ging auf die weiße Haustür zu. In der Eingangshalle nahm Tully nahe am Empfangstisch Platz. Um Punkt vier Uhr kam ein dicklicher Mann mit Hornbrille und Glatze sie abholen.
»Hallo, Tallulah. Ich bin Elmer Baker, der Anwalt deiner Großmutter.«
Tully folgte ihm in ein kleines Büro mit zwei Polsterstühlen und einem Mahagonischreibtisch, der mit gelben Notizblöcken übersät war. Die Sozialarbeiterin nahm am Fenster Platz.
»Ja, nun. Bitte setz dich doch«, sagte er und ging zu seinem eigenen Stuhl hinter dem eleganten Schreibtisch.
»Und nun, Tallulah –«
»Tully«, sagte sie leise.
»Ja, genau. Ich erinnere mich, dass Ima sagte, du zögest ›Tully‹ vor.« Er beugte sich vor und blinzelte ihr mit seinen Froschaugen durch die dicke Brille zu. »Wie du weißt, hat deine Mutter sich geweigert, das Sorgerecht für dich zu übernehmen.«
Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um zu nicken, obwohl sie am Abend zuvor einen Monolog einstudiert hatte, in dem sie dafür plädierte, allein leben zu dürfen. Aber jetzt fühlte sie sich klein und viel zu jung.
»Tut mir leid«, sagte er mit sanfter Stimme, und jetzt zuckte Tully wirklich zusammen. Mittlerweile hasste sie dieses dumme, sinnlose Mitleid.
»Ja, ja.« Sie ballte ihre Hände zu Fäusten.
»Miss Gulligan hier hat eine sehr nette Familie für dich gefunden. Du wirst mit anderen elternlosen Teenagern bei ihnen in Pflege sein. Das Schöne daran ist, dass du weiterhin auf deine Schule gehen kannst. Ich bin sicher, du freust dich darüber.«
»Wahnsinnig.«
Einen Moment lang wirkte Mr Baker, als hätte ihn ihre Antwort aus der Fassung gebracht. »Natürlich. Nun zu deinem Erbe. Ima hat ihren gesamten Besitz –
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