Immer für dich da (German Edition)
dass jetzt einiges auf sie zukam. Sie und Grand- ma hatten schon darüber gesprochen und alles vorbereitet. Andererseits war Tully jetzt klar, dass nichts sie wirklich auf das hier hätte vorbereiten können.
Sie ging hinüber zu Grandmas Nachttisch, wo neben Grandpas Foto und einer Unmenge von Tablettenröhrchen ein hübsches Kästchen aus Rosenholz stand.
Als sie den Deckel hob, kam sie sich zwar vor wie ein Eindringling, doch sie musste Grandmas Anweisungen folgen. Wenn ich heimgehe, hatte sie immer gesagt, dann hab ich für dich etwas in dem Kästchen, das Grandpa mir geschenkt hat.
Drinnen lag inmitten einer Sammlung billiger Schmuckstücke, die Tully nur selten an ihrer Großmutter gesehen hatte, ein gefaltetes rosafarbenes Blatt Papier mit Tullys Namen. Langsam griff sie danach und faltete es auseinander.
Liebste Tully,
es tut mir unendlich leid. Ich weiß, wie sehr Du davor Angst hast, allein zurückgelassen zu werden, doch Gott hat seine eigenen Pläne mit uns. Wenn ich gekonnt hätte, wäre ich noch bei Dir geblieben. Aber vom Himmel aus werden Großvater und ich immer über Dich wachen. Wenn Du daran glaubst, wirst Du nie wieder allein sein.
Du warst die größte Freude meines Lebens.
In Liebe, Grandma
Du warst.
Grandma war gegangen.
Tully stand vor der Kirche und ließ den Strom älterer Leute an sich vorüberziehen. Ein paar von Grandmas Freunden erkannten sie und kamen herüber, um ihr Beileid auszusprechen.
Es tut mir ja so leid, Liebes …
… aber jetzt ist sie an einem besseren Ort …
… bei ihrem geliebten Winston.
… würde nicht wollen, dass du traurig bist.
Sie ließ es, so lange sie konnte, über sich ergehen, weil Grandma es von ihr erwartet hätte, doch gegen elf hätte sie nur noch schreien mögen. Sah einer dieser wohlmeinenden Trauergäste wirklich, dass Tully erst siebzehn war? Erkannte einer von ihnen, dass sie ihre Angehörige betrauerte und nunmehr ganz allein auf der Welt war?
Wären doch nur Katie und die Mularkeys hier gewesen, doch sie wusste nicht, wie sie sie in Kanada erreichen sollte, und da sie erst in zwei Tagen nach Hause kommen wollten, musste sie dies jetzt allein durchstehen. Mit ihrer Ersatzfamilie hätte sie vielleicht den gesamten Gottesdienst durchgehalten.
Aber ohne sie schaffte sie es einfach nicht. Als sie keine weitere der schrecklich herzzerreißenden Erinnerungen an ihre Grandma ertrug, stand sie auf und ging hinaus.
Draußen, in der heißen Augustsonne, bekam sie wieder Luft, auch wenn sie immer noch in Tränen auszubrechen drohte. Und unablässig quälte sie die unsinnige Frage: Wie konntest du mich nur allein lassen?
Als sie in der Nähe einen Zweig knacken hörte, blickte sie auf. Zuerst sah sie nur die wild durcheinander geparkten Autos.
Dann entdeckte sie sie.
Am Rand des Kirchhofs, wo eine Reihe riesiger Ahornbäume den Übergang zum Stadtpark markierte, stand Cloud im Schatten und rauchte. Sie trug eine abgewetzte Kordschlaghose und eine schmuddelige Bauernbluse. Ihre krausen braunen Haare schienen sie fast zu erdrücken, so dünn wirkte sie.
Tully spürte, wie ihr Herz vor lauter Freude einen kleinen Satz machte. Sie war doch nicht allein! Cloud mochte ein bisschen verrückt sein, doch wenn es hart auf hart kam, war sie zur Stelle. Tully rannte lächelnd auf sie zu. Sie würde ihrer Mutter verzeihen, dass sie sie ständig im Stich gelassen und so viele Jahre verpasst hatte. Jetzt zählte nur, dass sie da war, als Tully sie am meisten brauchte. »Gott sei Dank bist du hier!«, sagte sie atemlos, als sie bei ihr war. »Du hast gewusst, dass ich dich brauchen würde.«
Ihre Mutter kam schwankend auf sie zu und lachte, als sie stolperte. »Du bist ein wunderschöner Geist, Tully. Du brauchst nur Luft und Freiheit.«
Tully sank das Herz. »Nicht schon wieder. Bitte …«
»Immer.« Jetzt lag ein scharfer Unterton in Clouds Stimme, der ihren glasigen Blick Lügen strafte.
»Ich bin dein Fleisch und Blut und brauche dich jetzt. Sonst bin ich ganz allein.« Tully wusste, dass sie nur flüsterte, aber offenbar hatte sie keine Kraft mehr in der Stimme.
Cloud torkelte auf sie zu. Unverkennbare Traurigkeit lag in ihrem Blick, doch das beachtete Tully nicht. Die Pseudogefühle ihrer Mutter waren genauso unbeständig wie die Sonne in Seattle. »Sieh mich an, Tully.«
»Tu ich ja.«
»Nein, wirklich. Sieh genau hin. Ich kann dir nicht helfen.«
»Aber ich brauche dich.«
»Das ist die ganze,
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