Immer für dich da (German Edition)
Kate wirklich bewusst war, wie wichtig ihre Freundschaft für sie war. »Ich hab unsere Räder geholt.« Sie wich ihrem Blick aus, damit sie die Tränen nicht sehen konnte.
»Cool.«
Ein paar Minuten später flogen sie bereits den Summer Hill hinunter und breiteten die Arme aus, um den Wind zu fangen. Am Ende des Hügels stellten sie ihre Räder im Wäldchen ab und gingen dann den langen, gewundenen Pfad zum Fluss hinunter. Um sie herum raschelten leise die Bäume im Wind; Blätter fielen zu Boden und kündeten vom nahenden Herbst.
Kate ließ sich auf ihrem angestammten Platz nieder, lehnte sich gegen den Baumstamm und streckte die Beine im Gras aus, das während ihrer Abwesenheit hoch geworden war.
Tully verspürte einen unerwarteten Anflug von Nostalgie. Einen Sommer lang hatten sie die meiste Zeit hier verbracht und ihre bis dahin getrennten, einsamen Leben zu einem dicken Strang der Freundschaft verflochten. Sie legte sich neben Kate und rückte so nahe an sie heran, dass sich ihre Schultern berührten. Nach den letzten Tagen wollte sie einfach spüren, dass ihre Freundin endlich bei ihr war. Sie drehte das Transistorradio auf.
»Die Höllenwoche unter Krabbeltieren war noch schlimmer als sonst«, verkündete Kate. »Allerdings habe ich Sean dazu gebracht, eine Nacktschnecke zu essen. Das war es wert, für eine Woche mein Taschengeld gestrichen zu bekommen.« Sie kicherte. »Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als ich zu lachen anfing. Und Tante Georgia hat versucht, mit mir über Empfängnisverhütung zu sprechen. Ist das zu fassen? Sie sagte, ich sollte –«
»Weißt du eigentlich, wie glücklich du dich schätzen kannst?« Das war heraus, bevor Tully es verhindern konnte. Es war einfach aus ihr herausgeplatzt.
Kate verlagerte ihr Gewicht und rollte sich zur Seite, bis sie Tully ansehen konnte. »Normalerweise willst du alles über unseren Campingurlaub hören.«
»Ja, stimmt. Aber ich habe eine schlimme Woche hinter mir.«
»Bist du gefeuert worden?«
»Das ist deine Vorstellung von einer schlimmen Woche? Na, dein perfektes Leben möchte ich haben, nur für einen Tag!«
Kate rückte ein Stück von ihr ab. »Du klingst, als wärst du sauer auf mich.«
»Nicht auf dich. Du bist meine beste Freundin.«
»Ach, und auf wen bist du dann wütend?«
»Auf Cloud. Grandma. Gott. Such dir was aus.« Sie holte tief Luft. »Während du weg warst, ist Grandma gestorben.«
»O Tully!«
Da war es, worauf Tully die ganze Woche gewartet hatte. Auf jemanden, der sie liebte und wirklich Mitgefühl mit ihr empfand. Ihr traten die Tränen in die Augen, und bevor sie sich’s versah, musste sie weinen. Sie schluchzte so heftig, dass es sie durchschüttelte und sie kaum noch Luft bekam, und dabei hielt Kate sie fest, ohne ein Wort zu sagen, und ließ sie sich ausweinen.
Als ihre Tränen schließlich versiegten, lächelte sie zittrig. »Danke, dass du nicht gesagt hast, wie leid es dir tut.«
»Tut es mir aber.«
»Das weiß ich.«
Tully starrte hinauf in den Nachthimmel. Gerne hätte sie gesagt, wie sehr sie Angst hatte und wie allein sie sich manchmal fühlte; dass sie jetzt erst wüsste, was wahre Einsamkeit sei. Aber sie konnte es nicht, nicht einmal Kate gegenüber. Gedanken und Ängste waren luftige, formlose Gebilde, bis man sie in Worte fasste. Dann wurden sie fest und konnten einen mit ihrem Gewicht erdrücken.
Kate wartete einen Augenblick und fragte dann: »Was wird denn jetzt?«
Tully wischte sich über die Augen und holte ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Tasche. Sie zündete eine an, nahm einen Zug und hustete. Sie hatte schon Jahre nicht mehr geraucht. »Ich muss in eine Pflegefamilie. Aber nicht lange. Wenn ich achtzehn bin, darf ich allein leben.«
»Du wirst auf keinen Fall zu Fremden gehen. Ich suche Cloud und zwinge sie, das Richtige zu tun.«
Tully antwortete erst gar nicht. Sie liebte ihre Freundin für ihre entschlossenen Worte, doch sie und Kate lebten in verschiedenen Welten. In Tullys Welt waren Mütter nicht da, um ihren Kindern zu helfen. Dort kam es nur darauf an, es sich nicht zu Herzen zu nehmen und seinen Weg zu finden.
Und die beste Methode, es sich nicht zu Herzen zu nehmen, war, sich mit Menschen und Aktivitäten zu umgeben. Das hatte sie schon vor langer Zeit gelernt. Sie hatte nicht mehr viel Zeit hier in Snohomish. In Kürze würden die Behörden sie aufspüren und sie zu ihrer netten, neuen Familie zerren, die dafür bezahlt wurde, sie und andere elternlose Kinder
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