Immer Schön Gierig Bleiben
wo war der Adler? Und wo war die Kontaktlinse?
»Mahlzeit.« Stiesel betrat die Abteilung
Abschiebungen
der Ausländerbehörde kurz nach zwölf Uhr. Die beiden Sachbearbeiter hatten ihre Stullen ausgepackt und tranken Cola aus PET-Flaschen.
Der eine hatte einen grauen Schnäuzer und trug ein blauschwarzweiß kariertes Hemd. »Sie sind noch nicht dran«, sagte er zu Stiesel. »Warten Sie bitte draußen, halb eins geht’s weiter.«
Stiesel zeigte seinen Ausweis. »Tut mir leid, wenn ich euch stören muss, Kollegen, aber die Sache ist dringend. Ich ermittle in zwei Mordfällen. Ich suche eine Zeugin, die vor zwölf Jahren etwas überraschend verschwunden ist. Ich tippe, sie hatte Probleme, weil sie schwarz gearbeitet hat.«
»Vor zwölf Jahren«, sagte der andere Sachbearbeiter. Er trug ein AC/DC-T-Shirt und hatte ein keltisches Muster auf dem Unterarm tätowiert. »Und jetzt ist es eilig.« Er biss von seiner Stulle ab.
Stiesel ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Derselbe Täter hat vermutlich letzte Woche wieder eine Frau ermordet. Deswegen graben wir den alten Fall noch einmal aus.«
»Wie hieß die Zeugin denn?«, fragte AC/DC.
»Olivia«, sagte Stiesel. »Olivia aus Mexiko.«
»Ach, Olivia«, sagte Schnauzbart. »Doch nicht etwa die Olivia aus Mexiko.« Schnauzbart stippte ein Wiener Würstchen in den Senf auf dem Pappteller vor ihm.
»Sag mal, Kollege, weißt du eigentlich, wie viele Ausländer hierherkommen, legal und illegal?«
»Olivia aus Mexiko ist vermutlich am 23. Juni 2001 ausgereist. Sie wohnte in einem Wohnheim für junge Frauen in der Waldenserstraße in Moabit.«
»Ach so, Olivia aus der Waldenserstraße. Sag das doch gleich.« AC/DC nahm einen Schluck von seiner Cola.
»Einer Neunzehnjährigen ist vor zwölf Jahren der Schädel eingeschlagen worden. Olivia aus Mexiko war ihre Freundin. Wir müssen wissen, mit wem sich die Tote am Abend vor ihrer Ermordung getroffen hat. Dazu müssen wir mit Olivia reden.«
Schnauzbart legte seine Stulle beiseite und griff zum Telefonverzeichnis. »Na, dann wollen wir doch mal sehen. A …« Er blätterte in einem Verzeichnis. »Ausweisung, Aserbaidschanische Botschaft, Archiv.« Zu Stiesel sagte er: »Geburtsdatum, Nachname, Zweck des Aufenthalts – nix?«
Stiesel schüttelte den Kopf.
Schnauzbart tippte eine Nummer ein. »Tach, Kollegen«, sprach er in den Hörer. »Hier ist jemand von der Mordkommission, der sucht eine Frau, die am …« Er sah zu Stiesel.
»23. Juni 2001«, soufflierte Stiesel.
»… am 23. Juni 2001 abgeschoben wurde oder ausgereist ist.« Am anderen Ende der Leitung wurde gesprochen.
»Olivia aus Mexiko, zuletzt wohnhaft Waldenserstraße, Postleitzahl 10551.« Schnauzbart nickte. »Genau, mehr hat er nicht. Gut, ich schick ihn runter.« Er legte auf. Zu Stiesel sagte er: »Hier raus, zweimal rechts. Mit dem Lift in Etage Minus 2 fahren, im Zimmer Minus 27 bei Herrn Werner melden.«
In Zimmer Minus 27 saß Herr Werner in einem blauen, abgeschabten Arbeitsmäntelchen und las sein Horoskop.
»Olivia?«, fragte er, und Stiesel nickte.
»Na, dann kommen Se mal mit, junger Mann.«
Herr Werner schloss die Tür ab, durch die Stiesel gekommen war und öffnete eine andere Tür, die in einen Raum führte, in dem eine Notbeleuchtung brannte. Sie gingen durch eine schmale Regalreihe, links und rechts standen Aktenordner mit Datumsangaben, dann bogen sie rechts in einen größeren Gang ein und kurz darauf links ab in einen weiteren engen Gang.
Herr Werner knipste eine winzige Taschenlampe an und leuchtete über die Aktenordner. »Hier haben wir den 17. bis 31. Mai 2001. Hier den 1. Juni bis 15. Juni, und hier – jawollja – die zweite Junihälfte.« Er zog den Ordner heraus, ging bis ans Ende des schmalen Gangs und bog links ab. Stiesel folgte ihm.
Sie standen vor einem Schreibtisch. Herr Werner knipste eine Klemmlampe an. »Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Wenn Sie wieder rauswollen, hier auf den Klingelknopf drücken.« Er zeigte auf einen kleinen weißen Knopf oben links in der Ecke des Schreibtischs. Dann ging er weg.
Stiesel war allein, mitten zwischen Regalen, die bis an die Decke reichten. Wenn die Klingel kaputt war, würden sie ihn hier nach Wochen finden, eingetrocknet und so klein, dass man ihn in eines der Regale legen könnte. Zu den anderen vergessenen Benutzern.
File under Stiesel
statt eines Grabsteins.
Er schlug den Ordner auf und suchte den 23. Juni. Und da war sie auch: Olivia Gutierrez,
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