Immer Schön Gierig Bleiben
zu sensibilisieren und die leichte Übelkeit loszuwerden. Sie tastete nach einer Leitersprosse und stieg nach oben. Sie kletterte aus dem Leiterschacht und stand auf einem Metallgitter. An einem Tisch ihr gegenüber saß der Mann, den sie suchte, und las.
»Professor Haeckel«, sagte Zabriskie. Ihre Stimme verschwamm im Echo der Metallskulptur.
Haeckel drehte sich um, starrte auf den Leiterschacht und sagte: »Wer ist da?« Er stand auf und kam auf sie zu. Mit dem einen Bein schlurfte er, mit dem anderen knallte er seine Prothese auf das Metallgitter. Fünfmal schlurf und fünfmal klack, dann standen sie einander gegenüber. »Zabriskie, sind Sie das? Wie in aller Welt haben Sie mich gefunden?«
Zabriskie blickte auf den künstlichen Fuß, und er folgte ihrem Blick. Er seufzte. »Der Unfall, nicht wahr? Ich habe meine Krankenversicherung noch. Ein Krankenwagen hat mich nach der Reha bis zum Eingang der Halde gefahren. Und Sie haben die Aufzeichnungen im Krankenhaus gefunden. Sie sind eben eine gute Polizistin. Sind Sie über den Haupteingang gekommen?«
Zabriskie nickte.
»Lang und beschwerlich, junge Frau.« Er musterte Zabriskies Kleidung. »Sie sind ja ganz nass. Ich hoffe, Sie sind nicht in ein Pulpeloch gefallen.«
»Nur beinahe«, sagte Zabriskie. »Ich habe einen Jungen gerettet, der im Plastik eingebrochen ist.«
»Beim Jagen vermutlich«, murmelte Haeckel. »Die Tümpel mit verquollenem Altpapier sind gefährliche Fallen, vor allem für die Kinder. Wenn sie jagen, vergessen sie alles andere. Hier leben Tausende.«
»Gehen sie nicht zur Schule?«, hörte Zabriskie sich fragen. Was ging sie das an?
»Auf den Halden gibt es keine Schulen, aber jeder Erwachsene hat die Pflicht, jedem Kind jede Frage zu beantworten oder wenigstens über seine Unwissenheit offen zu sprechen. Wenn dem Kind die Antwort gefällt, fragt es weiter, oder es stellt anderen Leuten andere Fragen.« Haeckel schlurfte zurück zu seinem Stuhl und ließ sich hineinsinken. Es war ein großer Bürostuhl aus schwarzem Kunstleder. Über seinem Kopf baumelten zwei Schläuche, einer rot, der andere blau. »Der Frischluftkreislauf«, sagte er, als er Zabriskies Blick bemerkte. »Hier drin ist es ganz ordentlich, es stinkt nicht so nach Plastik wie in den Wohnungen, die in den Berg hineingegraben wurden.«
Zabriskie sah nach oben. Haeckel lebte im Rumpf der Soldatenskulptur. Soweit sie erkennen konnte, gab es drei Metallgitterböden, die über flache Treppen miteinander verbunden waren.
»Hier arbeite ich«, sagte Haeckel und klopfte mit der Prothese auf das Gitter. »Eine Ebene weiter oben sind Küche und Wohnbereich, und ganz oben schlafe ich.«
Zabriskie sah Bücherregale, verschiedene Arbeitstische, Lampen und andere technische Apparaturen. Hinter Haeckel lag ein riesiges Modell eines Augenlängsschnitts auf einer Vitrine: Linse, Pupille, Augapfel, Sehnerv, Blutgefäße. Vom Metallgitter über ihren Köpfen, quasi dem Küchenfußboden, hing ein Mobile aus gläsernen Augäpfeln herunter, alle so groß wie Pflaumen. »Es tut mir leid, dass Sie nicht mehr bei uns sind«, sagte sie.
Haeckel schüttelte den Kopf. »Aber deswegen sind Sie nicht hier. Außerdem habe ich mich selbst dazu entschlossen. Ich habe mich zu einem Menschenversuch hinreißen lassen. Mit katastrophalem Ausgang.«
»Aber alle wollten, dass Sie diesen Irisscanner einsetzen. Nothoff und Speckler hatten sich freiwillig gemeldet.«
»Trotzdem. Ich hätte mich nie dazu hinreißen lassen dürfen. Auch nicht durch Druck von außen, auch nicht weil die Sache eine gute war. Wir haben zusammen im Sicherheitsbereich gearbeitet, Zabriskie, und Sie tun es noch. Lassen Sie sich nie in Versuchung führen, aus Ihren Möglichkeiten mehr zu machen, als Sie verantworten können. Mir hat es an Demut gefehlt, und zwei Menschen haben ein Auge verloren.«
»Aber man hätte …«
»Hätte was?« Haeckel wurde laut, und die Worte hallten zwischen den Gitterböden und Bronzewänden wider. »Hätte die beiden abfinden können? Hätte mich aus der Schusslinie nehmen können? Hätte Zeit vergehen lassen können, um den wertvollen Experten nicht zu verlieren?.« Er schüttelte den Kopf. »Glauben Sie mir, es ist besser, dass ich raus bin aus dem Laden. Aber Sie wollen mir doch bestimmt nicht einreden, dass ich damals einen Fehler gemacht habe. Sie schätzen mich, und ich habe Sie auch geschätzt als Schülerin in meinen Veranstaltungen, aber im Ergebnis geben Sie mir recht. Ich habe gepfuscht.
Weitere Kostenlose Bücher