Immer verlasse ich dich
Schlüssel sind in ihrer Hand. Ich
nehme sie ihr ab, rate und erwische prompt den richtigen. Wir folgen ihr durchs
Foyer, durch eine weitere Tür, und dann betreten wir ihr Apartment im ersten
Stock. Als sie das Licht anknipst, stelle ich fest, daß ihre Wohnung so elegant
ist wie die von Sasha schäbig. Ich bin noch nie hier gewesen, weil sie mich
niemals eingeladen hat. Schließlich bin ich auch nur die alte Freundin ihrer
Mutter jemand, den sie schon ihr ganzes Leben lang kennt. An einem Umgang mit
mir hat sie kein Interesse mehr. Ich kann das verstehen. Und es macht mir
nichts aus, weil ich Blythe als Erwachsene nicht besonders gut leiden kann. Sie
ist verzogen, schnell eingeschnappt und hat etwas linkisches an sich.
Als ich mich umschaue, frage ich mich,
woher diese zweiundzwanzigjährige Frau das Geld für solch eine Einrichtung hat.
Die Wohnung ist im Art Deco-Stil eingerichtet, alles in Schwarz und Weiß.
Blythe sinkt auf die schwarze
Samtcouch, schaut uns mit ihren blauen Augen fragend an. Sie sieht sehr schön
aus, und das obwohl sie unter Schock steht. Ihr langes blondes Haar reicht ihr
in einer Innenrolle bis zu den Schultern. Megs Haar. Unter ihrem offenen
Regenmantel sieht man eine lila Seidenbluse und eine graue Seidenhose. Die an
den Zehen offenen Schuhe passen zu der Bluse.
Kip setzt sich auf einen schwarzen
Clubsessel aus Samt, und ich setze mich neben Blythe. »Ich weiß nicht viel, aber
am frühen Abend wurde sie von zwei Männern überfallen. Sie hatten kein Glück,
und dann, später, hat man sie erschossen.«
Blythe zieht die Luft ein, als hätte
ihr jemand einen Faustschlag versetzt. »Das verstehe ich nicht.«
Dies ist eine Standardreaktion, wenn
ein Mensch vom Tod eines anderen informiert wird. Kip hat mir gesagt, es
bedeutet eigentlich, daß die Menschen sich weigern, es zur Kenntnis zu nehmen.
Ich lege meine Hand auf ihre und sage
es ihr noch einmal. »Jemand hat deine Mutter ermordet, Blythe.«
»Warum?«
»Wir wissen es nicht. Vielleicht kamen
die Räuber zurück, oder ein anderer Räuber hat es getan. Vielleicht war es auch
eine persönliche Sache.«
»Eine persönliche Sache?«
»Ja. Vielleicht hatte jemand etwas
gegen Megan.«
»Alle liebten sie«, sagt sie wie ein
staunendes Kind. »Wir haben uns gestritten, aber... ich... ich habe sie
geliebt.«
»Worüber habt ihr gestritten?«
Sie winkt ab, als sei das
bedeutungslos. Jetzt ist auch nicht der richtige Augenblick, um in diesem Punkt
nachzuhaken. Außerdem bricht sie in Tränen aus. Ich nehme sie in die Arme, und
sie schluchzt an meiner Schulter. Kip setzt sich auf ihre andere Seite, eine
Hand auf ihrem Arm, um Megans Tochter über Megans Tod hinwegzuhelfen.
Kip und ich hängen am Küchentisch. Wir sind um halb fünf ins Bett
gekommen, und jetzt ist es halb neun. Kip hat Patienten, und später treffe ich
mich hoffentlich mit Cecchi, um soviel wie möglich über den Mord an Meg zu
erfahren.
Kip sagt: »Ich weiß, was du tun wirst,
Lauren, glaub nicht, daß ich es nicht weiß.«
»Ach?«
»Stell dich nicht dumm.«
»Aber ich bin dumm. Ich habe
nicht die leiseste Ahnung, auf was...«
»Oh, ich bitte dich.« Sie klatscht
Margarine auf einen Muffin. Wir benutzen nämlich jetzt Margarine, wegen meiner
Cholesterinwerte. Ich kann sie nicht ausstehen.
»Kip, ich weiß wirklich nicht, wovon du
sprichst.«
»Ich rede über den Mord an Megan.«
Der Mord an Megan. Die Worte klingen hart, metallen, und
doch klingen sie in meinen Ohren zum ersten Mal real. Endlich weine ich. Kip
steht auf und hält mich, als ich mich von dem Kummer befreie, den ich gehütet
habe wie ein störrischer alter Hund eine Schafherde.
»Ich kann es nicht glauben«, sage ich
und klinge wie so viele meiner bisherigen Klienten.
»Ich auch nicht«, flüstert sie. Ich
spüre, daß eine unsagbare Traurigkeit von ihr ausgeht, und ich weiß, daß Megans
Tod das Bild heraufbeschworen hat, daß ihr Bruder Tom an Aids sterben wird. Er
erhielt die Diagnose HIV-positiv vor etwa einem Jahr, und seitdem wurde er
zweimal ins Krankenhaus eingeliefert. Jetzt ist er wieder obenauf, seine
T-Helferzellen arbeiten wieder. Dennoch macht Kip sich Sorgen, und ich ebenso.
Nach einer Weile versiegen meine
Tränen, mein Herz paßt sich dem Rhythmus der Verzweiflung an.
»Ich muß es tun«, sage ich zu ihr.
Sie weiß, daß ich erst jetzt antworten
kann.
»Du mußt gar nichts, Lauren.«
»Sie war meine älteste Freundin.«
»Ich
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